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  • Grenzmarkierung auf der Niederländischen Seite des Selfkants.

Der Grenzgänger

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

16. Oktober 2014

Gerd Passen ist so oft über die Grenzen hier gegangen, dass sie für ihn keine Rolle mehr spielen. Mit ihm beginnt „Ein Jahr Deutschland“, am 3. Oktober 2014, morgens um 8.45 Uhr. Ein Frühstück am westlichsten Punkt der Republik, Gemeinde Selfkant, Ortsteil Isenbruch – und Gerd Passen erzählt. Vom Schmugglertunnel in der Mühle und von der Zeit, als die Dörfer hier niederländisch waren. Heute hat er eine klare Haltung zur Pkw-Maut, und er ist viel unterwegs, denn er ist Vorsitzender der Heimatvereinigung Selfkant. Während er erzählt, kommt uns das Zitat des Schriftstellers Robert McLiam Wilson in den Sinn: All stories are love stories. Alle Geschichten sind Liebesgeschichten.

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Selfkant , Millen
Das westlichste Haus Deutschlands liegt gegenüber von einem Rübenfeld und ist verrammelt. Ein rot geklinkerter Bau, links das Wohnhaus mit Panoramascheibe und rechts im Flachbau die Zahnarztpraxis. Gerd Passen weiß das auch deshalb, weil er früher selbst hier im Stuhl lag, bei Dr. Schnellen. Heute ist niemand da. So geht das seit Wochen: Gerd Passen hat mehrfach geklingelt, wir haben mehrfach angerufen. Vergeblich. Der Blick in Deutschlands westlichstes Haus bleibt uns verborgen.

Das gilt auch für den Grenzstein. Denn der liegt nicht hier an der Kreisstraße 1. Der Stein vor uns verweist nur auf den eigentlichen Grenzstein. Und der liegt im Zahnarztgarten hinter der Hecke am Bach. „Zu hoch das Gras, zu feucht“, sagt Gerd Passen. Aber er würde ihn finden, den Stein. Wenn einer, dann er.

Ein Spinnennetz glitzert zwischen den Rüben in der Morgensonne. Ein Radfahrer fährt vorbei. Zwei Autos fahren vorbei. Der westlichste Punkt Deutschlands ist so unscheinbar, dass man eben vorbeifährt. Zwei eckige blaue Schilder stehen sich gegenüber: „Bundesrepublik Deutschland“ und „Nederland“. Der Rest ist Landstraße, zweispurig.

Der Bürgermeister heißt Herbert Corsten. Ihm ist dieser Ort schon seit Jahren zu unauffällig. Seine Gemeinde ist nicht irgendeine Gemeinde. Sie ist Mitglied im „Zipfelbund„. Das ist das Bündnis der vier deutschen Orte, die am weitesten in jeder Himmelsrichtung liegen:

Westlichtest Haus Deutschlands - Zahnartzpraxis Dr. Schnellen
List auf Sylt im Norden, Görlitz (eigentlich Neißeaue) im Osten, Oberstdorf im Süden. Drei Namen mit Glamour. Und Selfkant im Westen. Selfkant? Wo liegt denn das? Nördlich von Aachen? Nein, nie gehört. Das will Herbert Corsten ändern. Ein für allemal.

Sein Plan heißt „Erlebnisraum Westzipfel“ und kostet 497.000 Euro. Eine knappe halbe Million. 80 Prozent trägt das Land NRW. Mit dem Geld sollen Parkplätze und Informationstafeln entstehen. Weiße Betondielen sollen in den Boden eingelassen werden, dazu kommen eine „Windrosenbank“ und eine deutsch-niederländische Erlebnisbrücke.

Herbert Corsten ist sehr ungehalten, weil der Bund der Steuerzahler seinen Enthusiasmus nicht teilt. Sein Projekt steht als „Erlebnisraum irgendwo im Nirgendwo“ im Schwarzbuch des Bundes, Ausgabe 2014. Wir fragen bei der Gemeinde Selfkant nach. Und unser Ansprechpartner André Mobers, der schon viele Fragen beantwortet hat, macht es kurz: „Das Ding wird gebaut. Das dürfen Sie zitieren“. Geplante Eröffnung: Juni 2015.

Wir schultern die Rucksäcke. Es geht los. Gerd Passen fährt seinen schwarzen Teleskop-Wanderstock aus, und „Ein Jahr Deutschland“ beginnt. Ein paar Meter auf dem Radweg, dann führt er uns rechts ab in die silbrigen Wiesen mit den großen Eichen. Es geht zum Rodebach. Der Bach ist die Grenze zu den Niederlanden. Einen Meter breit, vielleicht etwas mehr. Man kann drüberspringen.

Der Selfkant ist Gerd Passens zweite Liebesgeschichte (die erste ist seine Gattin Marie-Luise). Selfkant heißt nicht nur die Gemeinde, so heißt die ganze Gegend. Man sagt „Der Selfkant“, mit warmem s wie in Sonnenblume.

Gerd Passen ist genau so, wie man sich den Vorsitzenden eines Heimatvereins vorstellt. Er ist traditionsbewusst und konservativ (im Sinne von bewahren). Er pflegt das Brauchtum seiner Heimat, vor allem Lieder und Sprache, genauer gesagt: das Selfkant-Platt.

Ein Leben im Selfkant. Gerd Passen, Jahrgang 1941, Realschule in Gangelt, später Ausbilder bei der Vereinigten Glanzstofffabrik Wuppertal, Außenstelle Oberbruch. 20 Kilometer mit dem Bus, jeden Tag. Die Fabrik stellte Kunstseide her, galt als Weltmarktführer, und Gerd Passen war zuständig für 120 Azubis. Der Betrieb war mit 7.500 Beschäftigten einer der beiden großen Arbeitgeber in der Gegend.

Der andere war die Zeche Sophia Jacoba in Hückelhoven, ebenfalls um die 7.500 Beschäftigte. Bei Schichtwechsel waren die Straßen im Selfkant voller Busse. Gefördert wurde Steinkohle der Spitzenklasse, bis 1997. Dann war Schluss. Auch die Glanzstofffabrik in Oberbruch ist heute längst Geschichte.

Gerd Passen hat den Selfkant erlebt, als die Gegend niederländisch war – von 1949 bis 1963. Ein besonderes Kapitel, abgekoppelt von der jungen Bundesrepublik. „Grenzkorrektur“ nannte sich das – eigentlich wollten die Niederländer bis an den Rhein, sagt Gerd Passen. Aber das wollten die Briten nicht.

Gerd Passen - Heimatverein Selfkant
Reiterin im Selfkant
Tamara, Dirk und Gerd Passen vor der alten Kirche St.Nikolaus in Millen
Das rechtliche Konstrukt nannte sich „niederländische Auftragsverwaltung“. In der Praxis bedeutete das: Die Menschen bekamen keinen niederländischen Pass. Sie bekamen ein Dokument, auf dem stand: „Gerd Passen wird behandelt wie ein Niederländer“.

Am Anfang hatten die Selfkanter Angst. Was werden die Niederlande mit uns anstellen? Müssen wir in die Polder umziehen? Nichts von alledem. Den Menschen ging es auf der niederländischen Seite der Grenze ziemlich schnell ziemlich gut. Es ging ihnen bald sogar besser als den Nachbarn in Deutschland.

Brummende Infrastruktur

Beispiel Schule: Gerd Passen genoss als „Niederländer“ schon damals Lehrmittelfreiheit. Und wurde deshalb schief angeschaut von seinen deutschen Klassenkameraden. Auch wirtschaftlich ließen die Niederlande die Region nicht im Stich: Sie bauten Straßen, sie subventionierten den Hausbau, die Infrastruktur brummte.

Und die Deutschen schauten mit Neid auf die andere Seite. Gerd Passen sagt das ganz offen: „Wenn es 1963 eine geheime Abstimmung darüber gegeben hätte, wo wir bleiben wollen: Hätte gut sein können, dass wir uns für die Niederlande entschieden hätten.“

Vorbei geht es an Kühen und Zäunen, bis wir nach Millen kommen. Der 1000 Jahre alte Sitz der „Herren von Millen“ – ehemalige Raubritter, sagt Gerd Passen – liegt etwas außerhalb, auf der anderen Seite vom Rodebach. Also müssen wir über eine kleine Brücke hinüber in die Niederlande.

Schmuggler in der Mühle

Über die ehemalige Mühle von Haus Millen gibt es eine herrliche Schmugglergeschichte. Eigentlich waren es zwei Mühlen, die der Rodebach versorgte. Ein Wasserrad in der Mitte, und rechts und links je eine Mühle. Verbunden durch einen gemeinsamen Riemenantrieb. Die eine Mühle war deutsch, die andere niederländisch.

„Da dürfte in der ersten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg das eine oder andere Paket Kaffee durch den Riemenschacht geschoben worden sein“, sagt Gerd Passen. Die Mühle war, so will es die Legende, ein Schmugglertunnel. Und geschmuggelt wurde im Selfkant, was das Zeug hält – mitunter lastwagenweise.

Steckbrief von Millen: Historischer Kern, drumherum gepflegte Einfamilienhäuser, viel roter Klinker, und wenn ein Haus zum Verkauf steht, dann heißt es auf dem Schild „te koop“. Heute, am 3. Oktober 2014, ist Millen so gut wie ausgestorben. Feiertagsruhe. „Ein toter Ort“, sagt Gerd Passen, und das macht ihn traurig. Denn er ist hier aufgewachsen und erst nach der Hochzeit mit Marie-Luise weggezogen nach Höngen, Luftlinie vier Kilometer.

Heute, sagt Gerd Passen, leben in Millen zu 50 Prozent Niederländer. Gelbe Nummernschilder sind das Kennzeichen der Region. Viele kamen, weil Grundstücke und Lebenshaltung billiger waren. Aber, klagt Gerd Passen: Sie nehmen nicht am Vereinsleben teil. Den Vorwurf haben wir schon mehrfach gehört.

Dorfplatz in MIllen
Pfarrei in Millen
Haus mit Vorgarten in Tüddern
Die Niederländer bestreiten das natürlich. Irgendwo an der Straße treffen wir ein niederländisches Paar auf dem Fahrrad. Der Mann sagt, in seinem Fußballverein seien mehr als zwei Drittel Niederländer. Und außerdem sei es in einem Dorf immer das gleiche: Die einen machten nun einmal mit in den Vereinen, die anderen nicht. Ganz gleich, ob Deutsche oder Niederländer. Gerd Passen nickt. Er war gestern bei der Frau des Mannes im Fitnessclub zur Reha.

Für ihn ist Millen eine Herzensangelegenheit. Das Wort wählt er selbst, und der Grund dafür ist das „Ensemble“, wie er es nennt: Kirche, Propstei, Zehntscheune. Drei historische Gebäude. Gerd Passen hebt seinen Wanderstock in die Luft, deutet mal hierhin, mal dorthin. Die drei Gebäude (allen voran die Kirche St. Nikolaus) sind blendend restauriert, die steinernen Fassaden leuchten in der Oktobersonne.

In der alten Propstei liegen Gerd Passens Lieblingszimmer. Wir erleben ein blitzsauberes Stückchen Deutschland 2014. Im Erdgeschoss das Trauzimmer, wo die Leute heiraten, „weil es was hermacht“.

Im ersten Stock – erreichbar über eine Wendeltreppe aus Metall, in der mein Rucksack wegen der Isomatte hängen bleibt – die „gute Stube“ der Heimatvereinigung: Ein Raum von oben bis unten aus Holz. Ein langer Tisch, ein paar Vitrinen mit Artefakten aus der Römerzeit. Und ein stolzer Gerd Passen.

Wunschtraum Selfkantmuseum

Er würde aus der Propstei am liebsten ein „Selfkantmuseum“ machen – das Material von der Steinzeit bis heute haben er und die Heimatvereinigung längst beisammen, nur der Platz fehlt. Es gäbe im Gebäude die nötigen Räume – aber dort wohne noch die Hausmeisterin, sagt Gerd Passen. Eine Lösung gibt es nach seinen Worten noch nicht. Darum – und auch wegen der knappen Kasse der Kommune – bleibt das Museum Wunschdenken.

Hinter Millen steht ein Birnbaum am Wegesrand. Er ist voll mit Früchten. Einer der Momente, die man sich auf einer Wanderung wünscht. Die Birnen sind wunderbar. Nicht mehlig, sondern knackig, saftig und angenehm süß. Gerd Passen steht im Schatten des Baumes und erklärt, warum er gegen die Pkw-Maut ist. Erstens. Der kleine Grenzverkehr würde leiden – das hätte wirtschaftliche Folgen für die Gegend. Zweitens. Die Niederlande und Belgien würden bald nachziehen mit einer eigenen Maut. Und das würde für einen Menschen, der mit Heimatvereinen in beiden Ländern kooperiert, gleich zwei teure Vignetten für die Windschutzscheibe bedeuten.

Es ist ein schöner Moment, da unter dem Birnbaum. Ein Innehalten mit frischem Obst. Gerd Passen posiert für ein Foto, gestützt auf seinen Wanderstock. Aber dann ist schnell Schluss mit Romantik. Wir erreichen Tüddern, noch so ein nie gehörter Name.

Der kleine Grenzverkehr

Tüddern ist das politische Herz des Selfkant, denn hier liegt das Rathaus. Und am Ortseingang erleben wir, was „kleiner Grenzverkehr“ bedeutet. Supermärkte und Parkplätze in Anzahl und Ausmaß einer Großstadt. Einer nach dem anderen. Aldi, Tedi, REWE, DM, außerdem ein Grillimbiss und eine Sparkassenbude zum Geldziehen. Praktisch und hässlich. Das Gegenteil von Millen.

Jetzt machen wir Kilometer. Von Tüddern geht es nach Höngen, dann wollen wir noch weiter bis nach Birgden, das schon zur Nachbargemeinde Gangelt zählt. Von all diesen Orten trennt uns die „B56n“, die neue Bundesstraße 56. Strenggenommen zerteilt sie den gesamten Selfkant. Es ist ein Monstrum von Bundesstraße, das die A 46 mit den Niederlanden verbindet. Verkehrstechnisch ein Zugewinn, landschaftsplanerisch ein Desaster. Wir müssen einen Umweg gehen, um die B56n zu unterqueren und Höngen zu erreichen.

Dort gibt es ein spätes Mittagessen. Currywurst und Fritten im türkischen Restaurant „Salz und Pfeffer“. Gerd Passen isst regelmäßig hier, denn er wohnt nur ein paar Meter weiter. Nach dem Essen weist er uns noch den Weg nach Birgden, und dann schütteln wir ihm die Hand und nehmen Abschied von unserem Grenzgänger mit dem schwarzen Teleskop-Wanderstock.

„So, aussteigen.“

In Erinnerung bleibt uns später vor allem ein Satz, den Gerd Passen ganz zu Anfang gesagt hatte: Heute, meinte er, reden alle von „grenzüberschreitenden Maßnahmen“. In dem Begriff aber, sagt er, da steckt das Wort „Grenze“ noch immer drin. In Gerd Passens Kopf nicht.

Er hatte mal Besuch, und der Besuch wollte nach Belgien, für Zigaretten und Kaffee. Kurz nach der Abfahrt meinte Gerd Passen: „So, aussteigen“. Die Gäste, irritiert: „Warum das denn?“ Gerd Passen: „Weil wir schon über die niederländische und die belgische Grenze gefahren sind. Wir sind da.“ Da fiel den Gästen die Kinnlade herunter. So ist das im Selfkant: Das Ausland ist immer schon da. Man merkt es nur nicht.

Gerd Passen spricht über das Poussieren im Selfkant.

Trauzimmer in Millen
Gewerbegebiet in Tüddern
Gerd Passen in einer Fallobstwiese

Ein Kommentar

  1. Michael Hoeldke 28. Februar 2015 um 18:32 Uhr

    Sehr poussabel! (y)

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