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Abschlussball in Beucha

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

9. September 2015

Der Blick über den See ist atemberaubend. Dunkles Wasser, darüber der Felsen mit der Bergkirche. Der ehemalige Steinbruch hat die Form eines Herzens, hier wurde der Granit für das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig herausgebrochen. Am Bahnhof steht noch das alte DDR-Kulturhaus. Es steckt voll bis zum Rand mit Geschichten. Wolfgang Drescher hatte hier seinen Abschlussball. Er ist Ortsvorsteher und will das Haus vor dem Abriss bewahren. Wir schlafen drinnen, auf staubigem Tanzparkett und besuchen am nächsten Morgen noch schnell seine Tochter Emma in der Grundschule. Es ist der zweite Schultag ihres Lebens. Emma mag Pferde.

Etappe:

Vollkommen unberührt. Das Gebäude ist pure DDR, da ist nichts verändert. Graue Fassade aus Spritzputz, die Fenster und Türen braun gerahmt und eingefasst von abgewetzten Messing-Leisten. Ein Schriftzug, bogenförmig, in grüner Farbe: „Feldschlößchen“. Darunter in rosa die Worte „Beucha“ und „Inhaber: Bolko Marschner“. Er hat das Haus nach der Wende noch fünf Jahre betrieben. Dann war Schluss. Seither steht das Kulturhaus leer und verfällt. Strom und Wasser sind längst abgeschaltet, die Möbel hat man fortgeschafft.

Es ist ein heißer Tag Ende August. Wir sind von Leipzig hergewandert, durch endlose Schrebergärten und über die A14, die nach Magdeburg und Dresden führt. Es sind 15 Kilometer zu laufen heute, die Birnen am Wegesrand sind fast reif, die Mirabellen sind saftig und süß. Es ist Spätsommer, wir sind in Sachsen angekommen.

Der Wind bläst, als wir Beucha erreichen. „Ich warte bei der Bergkirche auf Sie“, hatte Wolfgang Drescher am Telefon gesagt. Er ist Ortsvorsteher von Beucha und steht rauchend auf dem Kopfsteinpflaster unten am Kirchhügel. Mit Wolfgang Drescher kann man schnell warm werden. Muskulöser Typ, Glatzkopf, blaues Shirt, im Kragen hängt die Sonnenbrille. Wir hören keine einzige Politiker-Floskel von ihm.

Beucha ist ein Dorf im Speckgürtel von Leipzig und gehört zur Gemeinde Brandis. Beucha hat 3.000 Einwohner, und mitten im Dorf steht eine berückend schöne Kirche. Sie steht oben auf einem Felsen, und der Felsen ragt empor aus einem herzförmigen See.

Wir gehen mit Wolfgang Drescher hoch und stellen uns an eine hüfthohe Mauer. Das Wasser schimmert in dunklem Türkis, und darin leuchten die Körper zweier Schwimmer. Das Baden ist verboten, aber es hält sich kaum jemand dran. In dieses Wasser muss man einfach hineinspringen. Es ist 40 Meter tief, das Ufer ist steil, es gibt ein paar Wege hinab zu kleinen Buchten. Die Kirche sieht von jeder Bucht anders aus.

Der See war früher ein Steinbruch und ist vor ein paar Jahrzehnten geflutet worden. Der Granit, den die Arbeiter vor mehr als 100 Jahren herausgebrochen haben, hat Geschichte geschrieben. Aus diesem Granit ist 1913 das Völkerschlachtdenkmal gebaut worden. Es liegt zwölf Kilometer westlich von uns. In Beucha haben sie den 100. Geburtstag des Denkmals und den 200. Jahrestag der Schlacht mit einem gigantischen Fest gefeiert. Es kamen mehrere tausend Menschen, so viele Gäste hat der Ort noch nie auf einmal gesehen. Bis heute heißt Beucha „Dorf der Steine“.

Wolfgang Drescher erzählt, und wir schlendern mit Rucksack den Kirchberg hinunter. Dort biegen wir links ab in die August-Bebel-Straße. Auf der rechten Seite steht noch ein Konsum-Supermarkt aus DDR-Zeiten, der Schriftzug ist ein Original. Das Gelände ist eingezäunt, das Gebäude steht leer. Es ist nur noch ein Echo von früher. Ein paar Meter weiter taucht eine winzige Kirche auf. Sie sieht aus wie eine Grundschule mit nur einem Klassenraum – wäre da nicht auf dem Dach der Aufsatz mit der Glocke. Die Kirche ist einst für die katholischen Gastarbeiter aus Bayern gebaut worden. Sie kamen als Steinmetze nach Beucha. Arbeitsmigranten, schon damals.

Wolfgang Drescher über das Kulturhaus von Beucha

Dann sind wir am Bahnhof, und hier steht das Kulturhaus. Es strahlt von außen nichts aus – nur Tristesse. Wolfgang Drescher holt die Schlüssel aus der Tasche. Die erste Tür, ein Windfang, dann eine Schwungtür und wir sind drinnen. Es wird sofort still. Die Dorfgeräusche verstummen, wir sind in der Vergangenheit. Es riecht nach Staub und Stein, etwas modrig. Es ist kühl.

Wolfgang Drescher zeigt auf die wuchtige Treppe, er deutet auf die Garderobe an der Wand dahinter, er führt uns in den Raum linkerhand. Dort war früher das Café mit dem architektonischen Höhepunkt. Das „Fass“ ist ein kleines Gewölbe, von oben bis unten vertäfelt, der ideale Platz für Kaffeerunden – bei Facebook kommentiert später eine Frau aus dem Dorf: „Was hat unsere Kaffeerunde im ‚Fass‘ gefeiert!!!“ Mit drei Ausrufezeichen.

Im Kulturhaus haben sie früher in Beucha die Jugendweihen veranstaltet. Fast alle waren dabei. Bis auf Wolfgang Drescher. „Meine Mutter war erzkatholisch“, sagt er. Also keine Weihe – da war die Mutter konsequent. Aber Staatsbürgerkunde hat er natürlich gehabt, damals, in den Siebzigern. Seine Lehrerin unterrichtet bis heute in der Grundschule, in ein paar Monaten geht sie in Rente.

So richtig Ärger mit dem Regime hatte Wolfgang Drescher nicht. Ein paar Mal hat er herumerzählt, was er im ZDF gesehen hat. Das kam nicht so gut an. Im Herbst 1989 fahren er und seine Freunde nach Leipzig, auf die Montagsdemos. „Das waren die Bilder, wo den Leuten in der Menge die Transparente weggerissen wurden. Die standen mitten unter uns.“ Er meint die Stasi, die Sicherheitskräfte. Das Regime steht vor dem Kollaps.

Wolfgang Drescher über Leipzig-Demos 1989

Ihre Herzen schlagen laut, als sie an der „Runden Ecke“ vorbeiziehen. Den Namen kennt jeder, hier saß die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit. Hat er gespürt, dass damals in Leipzig etwas Entscheidendes passiert? „Ja“, sagt er. „Das Gefühl war da. Das war nicht so, dass man sich einfach trifft und schwafelt. Wir sahen die Massen von Leuten. Das war was Enormes. Die Unzufriedenheit hat die Menschen auf die Straße getrieben. Und es hat funktioniert. Für uns war das ein Glück. Für die einen oder anderen nicht.“
Noch vor dem Mauerfall stellt er einen Ausreiseantrag. Bewilligt wird der Antrag danach. Wolfgang Drescher landet in Gießen im zentralen Aufnahmelager und dann auf einem Flüchtlingsschiff in Düsseldorf. „Ich habe nur Gutes erfahren damals“ sagt er. Trotzdem kehrt er später nach Beucha zurück. „Heimat ist Heimat“, sagt er.

Wir steigen die Treppe im Kulturhaus hinauf. „Wenn ich hier hochgehe, kriege ich Gänsehaut“, sagt Wolfgang Drescher. Im ersten Stock liegt das Foyer. „Hier standen Ledersessel“, erzählt er. Er spricht das Wort breit aus. Leeehdersessel. Mit Raucherlaubnis? „Überall“, sagt er. Er raucht auch heute noch drinnen.

Dann stehen wir im Festsaal. Der Parkettboden ist blind vom Staub, oben in der Rückwand sind viereckige Löcher: Dort standen die Projektoren für die Kinovorführungen. „Ich habe hier den Abba-Film gesehen“, sagt Wolfgang Drescher. „Es gab einmal die Woche eine Vorführung“. Auf Facebook schreibt uns später jemand, dass auch Asterix gezeigt wurde. Unverdächtige Kost. Das Kulturhaus war ein Ort des Systems.

Wir gehen nach vorn zur Bühne. Bis heute hängt dort der schwere, grünschimmernde Vorhang. Das Drehrad links an der Wand funktioniert tadellos. Es sieht aus wie das Rad an der Luke eines U-Bootes. Wolfgang Drescher dreht, und der Vorhang öffnet sich mit Schwung. Wir schauen auf eine zerfetzte Leinwand.

In diesem Saal hatte Wolfgang Drescher seinen Abschlussball. Auch den ersten Kuss? „Nein“, sagt er. „Das war schon in der dritten Klasse“. Sein Lachen hallt. Sie hieß Vicky und saß neben ihm. „Die Gelegenheit war günstig“, sagt er. Da hat er ihr einen Schmatzer auf die Wange gedrückt. Wolfgang Drescher vermisst die Zeit. Und er meint nicht das System. Er meint die Menschen. „Der Zusammenhalt war besser. Und das möchte ich reaktivieren“, sagt er. Was meint er damit?

Wolfgang Drescher über Zusammenhalt

„Heute haben die Leute hier alles“, sagt Wolfgang Drescher. „Jetzt ist Platz für Dinge wie das Gemeinwohl, für ein bisschen Kultur. Dieses Haus ist vielen eine Herzensangelegenheit.“ Er hat einen Förderverein ins Leben gerufen. Der Bürgermeister steht dahinter, das Haus gehört der Stadt. Wolfgang Drescher hat sich drei Stufen ausgedacht.

Stufe eins: Events machen, das Haus ins Gespräch bringen. Im Herbst gibt es ein Benefizkonzert. Stufe zwei: Das Haus regelmäßig nutzen, es an Privatleute und Vereine vermieten. Stufe drei: Instandsetzung. Die Balken, die das Dach tragen, sehen gut aus. Der Rest ist Baustelle. Die Wandverkleidungen sind löchrig, die Toiletten außer Betrieb, die Küche ist veraltet, die Liste ist lang. Da geht es um siebenstellige Beträge. Es wird Zeit. Die Bausubstanz wird nicht besser.

Es wird Abend in Beucha. Wolfgang Drescher nimmt uns auf ein Bier mit nach Hause. Es sind Wolken aufgezogen, gleich wird es aus Kübeln schütteln. Wir biegen ab von der Straße, es ist fast dunkel. Plötzlich bleibt er stehen und geht rechts ins Gebüsch. Wir sind dicht hinter ihm. Und stehen vor einem Abhang, der direkt hinunter führt ins Wasser. Noch ein Steinbruch. „Das ist der Tollertbruch“, sagt Wolfgang Drescher. Und dann, ganz unvermittelt: „Das ist mein Paradies.“

Noch ein paar Meter, und wir sind bei ihm zuhause. Seine Frau Mandy geht gerade zu Bett, die Kinder schlafen schon. Wir sitzen im Garten, das Grundstück ist groß, sie haben alles selbst gebaut hier. Wolfgang Drescher hat Parkettleger gelernt, bis seine Knie kaputt waren. Dann Bauzeichner, dann Mediengestalter. Heute ist er Leiharbeiter, meistens für die Firma Hörmann aus Beucha. Garagentore, Türen, Fenster.

Der Regen wird stärker, wir setzen uns unter das Vordach der Garage. Es prasselt so laut, dass wir einander kaum verstehen können. Aber es gibt auch nichts mehr zu sagen, wir reden ohnehin schon seit Stunden. Irgendwann gehen Dirk und ich zurück ins Kulturhaus. Wir schlagen unser Lager oben auf, im Raum neben dem Festsaal, auf dem staubigen Holzboden.

Am nächsten Morgen sind wir wieder in der Gegenwart. Der Bürgermeister von Beuchas Muttergemeinde Brandis holt uns ab, wir machen vor dem Abschied noch eine Minirundfahrt. Arno Jesse fährt uns in den einzigen Steinbruch, der noch in Betrieb ist. „Krack krack krack“ macht der Bagger, der den Granit mit einem Metallhammer zertrümmert. Der Lärm ist beeindruckend.

Arno Jesse ist zufrieden, denn Brandis schrumpft nicht. Brandis wächst, das macht die Nähe zu Leipzig. Nur 16 Minuten fährt die Bahn, dann ist man im Grünen und kann im Steinbruch baden. Es gibt kaum Leerstand hier, die Gemeinde muss neues Bauland erschließen. Brandis ist sächsische Innovationskommune 2014 – 2016. Im Konzept hat überzeugt, dass die Bürger stärker in Entscheidungen eingebunden werden soll. Kommunale Mitgestaltung – das Projekt bringt der Gemeinde eine Million Euro vom Freistaat.

Wir haben nur noch einen Wunsch. Wir wollen Emma besuchen, bevor wir nach Wurzen laufen. Emma ist die Tochter von Wolfgang Drescher und geht in Beucha in die Grundschule. Seit gestern. Arno Jesse fährt uns rüber, es sind sowieso nur ein paar Meter. Außerdem können wir uns in der Schule noch das riesige Wandgemälde von 1955 anschauen, reinste DDR, Alltagsszenen aus dem Schülerleben, frisch renoviert.

Emma sitzt bei ihrer Klassenlehrerin in der 1A und wartet auf ihren Fototermin. Nicht auf den mit uns, sondern auf den mit einem Fotografen, der alle Erstklässler mit ihren Schultüten fotografiert. Emmas Tüte ist eckig, es sind Bilder von Pferden drauf. Oben schaut eines aus Plüsch raus.

Emma nickt, als ich frage, ob ich mich kurz neben sie setzen darf. Ich passe überhaupt nicht auf den winzigen Stuhl, aber ich setze mich trotzdem. Emma schaut mich an. Ich begreife sofort: Der machst du kein X für ein U vor. Sie lässt sich Zeit mit ihren Antworten, macht jedes Mal vorher lange „mmmmhmmmmm…“ und berichtet dann von ihrer Schultüte, vom Pferdchen-Spielen im Garten (bei ihren Eltern oder bei den Großeltern nebenan) und vom Baden im Steinbruch.

Wir wiehern beide ein bisschen (eigentlich wiehere nur ich), und dann gehen Dirk und ich wieder. Sachsen wartet, wir wollen nach Wurzen. Emma winkt uns hinterher, später lässt sie uns über ihren Vater schöne Grüße ausrichten. Emmas Abschlussball dürfte – wenn es dann noch Tanzstunden gibt – in ungefähr neun Jahren sein. Wenn das Dorf sich reinhängt, kann sie ihn vielleicht im alten Kulturhaus feiern.

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