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Außenkommando

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

7. Juni 2015

In Niederorschel mussten 734 Häftlinge die Tragflächen für ein Kampfflugzeug der Nazis bauen. Das NS-Regime betrieb hier ein Außenkommando des KZ Buchenwald. Der Ortschronist und der Bürgermeister haben die Geschichte aufgearbeitet und sind auf Kapo Otto Herrmann gestoßen. Er war als Funktionshäftling verantwortlich für die Gefangenen und setzte sich für sie ein. Der Staat Israel erklärte ihn 2004 posthum zum „Gerechten unter den Völkern“. Niederorschel: Ein Dorf stellt sich der Geschichte.

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Gemeinde Niederorschel

Herbst 1944. Der erste Zug mit Häftlingen trifft am 7. Oktober ein. Die Fahrt von Buchenwald dauert einen Tag, die von Auschwitz drei Tage. Das erste, was die jüdischen Häftlinge in Niederorschel erblicken, ist der Schriftzug am Reichsbahngebäude. In großen Buchstaben heißt es dort: „Räder müssen rollen für den Sieg, unnütze Reisen verlängern den Krieg“. In den Ohren der Gefangenen muss das zynisch klingen: Das Volk darf nicht mehr reisen, aber für den Transport von Menschen in Arbeits- und Vernichtungslager haben die Nazis genug Züge.

Der Satz wird nach dem Krieg übertüncht, Wolfgang Große lernt damals gerade lesen. Er erinnert sich daran, wie der Regen die Farbe abwäscht und er das Wort „Räder“ wieder entziffern kann. Später wird die Wand verputzt, und die Schrift verschwindet. Wolfgang Große ist Ortschronist von Niederorschel. Die Geschichte des Außenkommandos im Dorf beschäftigt ihn, seit die ersten Überlebenden herkamen, kurz nach der Wende, Anfang der Neunziger Jahre.

Die Recherche wird mühsam. Im Archiv der Gemeinde kann er nichts finden. Was er findet, sind Artikel eines früheren Bürgermeisters. „Die Texte waren falsch“, sagt Große. „Aber das wusste ich damals noch nicht. Da hieß es zum Beispiel, es seien 375 Menschen grausam ermordet worden. Ich habe später herausgefunden: Es gab 19 Tote hier im Außenkommando Niederorschel.“

Wolfgang Große und Bürgermeister Hans Dannoritzer arbeiten die Geschichte des Lagers seit Jahren gemeinsam auf. Wir stehen im Nieselregen am Bahnhof. Die beiden erzählen abwechselnd. Sie lassen den anderen immer dann reden, wenn sie glauben, dass er einen bestimmten Aspekt besser kennt. Respektvoll, schonungslos und aufrichtig sprechen sie über die Vergangenheit.

Wolfgang Große über die Zwangsarbeit der Häftlinge in Niederorschel

„Wir haben immer wieder den Begriff des ‚guten KZ‘ gehört, weil hier nur 19 Menschen starben“, sagt Hans Dannoritzer. „Ich sage dazu: Es gab Auschwitz, es gab Buchenwald, und es gab Niederorschel. Das Außenkommando gehörte zum Krebsgeschwür des KZ-Systems. Es war eine Metastase. Und es darf kein Gras darüber wachsen.“

Es sind nur wenige Meter vom Bahnhof zum Lager und zur Fabrik. Die Wege sind kurz in Niederorschel. Die Häftlinge, die aus Auschwitz und Buchenwald eintreffen, schöpfen Hoffnung: Sie sehen keine Schlote, keine Krematorien.

Bürgermeister Hans Dannoritzer über das Außenkommando Niederorschel

Wolfgang Große hat ein Buch über das Außenkommando geschrieben. Es heißt „Aus dem Umkreis der Kamine“. Er hat viel recherchiert, nicht nur in der Gedenkstätte Buchenwald. Vor allem hat er Gespräche mit Überlebenden von Niederorschel gesammelt – zum Beispiel mit Dov Goldstein aus Bratislava, der 2002 auf seine Zeit als Häftling zurückblickte.

„Ende Oktober fuhren wir in Viehwaggons drei Tage mit je 80 Mann im Waggon nach Niederorschel. In Niederorschel schliefen wir in dreistöckigen Betten. Ich wurde die ersten Tage eingeteilt zur Elektromontage und danach in eine Halle, in der Flügel für Flugzeuge gebaut wurden. Hier musste ich mit einem eiskalten Niethammer die Bleche zusammennieten. Täglich zwölf Stunden, eine Woche Tagschicht, eine Woche Nachtschicht. Auch hier gab es viele Läuse und wenig zu essen.“ („Aus dem Umkreis der Kamine“, Mecke Druck und Verlag, Duderstadt, S. 36)

Das Außenkommando Niederorschel entsteht im Herbst 1944. Die Nazis waren penibel, wenn es um Dokumentation ging. Alle 734 Häftlinge, die von Herbst 1944 bis Frühjahr 1945 in Niederorschel waren, sind erfasst. Die meisten sind Juden. Das Außenkommando ist ein Rüstungsbetrieb der Nationalsozialisten, die Fabrik gehört zu den Junkers-Werken Dessau. Drei Hallen mit Runddächern, 500 Meter entfernt vom Bahnhof. In der östlichen Halle arbeitet damals noch ein Sperrholzbetrieb, der Türen herstellt. Die beiden anderen Hallen werden an die Junkers-Werke verpachtet. Hier müssen die Häftlinge arbeiten, abgeschirmt durch einen Maschendrahtzaun, aber in Sichtweite der Sperrholzarbeiter, die ihnen schonmal eine Scheibe Brot durch den Zaun schieben.
Die Arbeit ist schwer, in der Luft hängt Aluminiumstaub. Aus großen Blechen müssen die Häftlinge die Tragflächen für den Höhenjäger Focke-Wulff Fw 190 ausschneiden. Sie müssen tausende Löcher bohren und die Teile anschließend vernieten. Schon im Januar 1945 gehen die Rohstoffe langsam aus, irgendwann steht der Betrieb still. Die Häftlinge werden in die Wälder geschickt, sie müssen Baumstümpfe ausgraben. „Stubbenroden“ heißt das hier.

De facto wird keine einzige Tragfläche aus Niederorschel jemals an ein Kampfflugzeug montiert. Auf einer amerikanischen Luftaufnahme vom 22. März 1945 ist das Gelände gut zu erkennen. Linkerhand die große Fabrikhalle, dahinter – eng an eng gestapelt – 64 Flügelpaare unter freiem Himmel. Ein Friedhof aus Metall.

Wolfgang Große beschreibt die Fabrikhalle in Niederorschel

Rechts von der Fabrik liegt die Kantine, ein eingeschossiger Bau, der bis heute steht. Noch weiter rechts folgt die alte Weberei, in der die KZ-Häftlinge schlafen. Das Gebäude gibt es nicht mehr, an der Stelle steht heute ein Discounter. Ein paar Meter weiter dann die SS-Unterkunft, direkt an der Bahnstrecke von Kassel nach Halle. Heute sind Wohnungen in dem kompakten, etwas trutzigen Haus. Das gesamte Areal, in dem sich die Häftlinge bewegt haben, war mit Stacheldraht eingezäunt.

Als Unterkunft in Niederorschel dient der große Websaal der „Mechanischen Weberei“. Er wird ausgeräumt und in Stuben für 20 bis 40 Häftlinge abgeteilt. In jeder Stube stehen die dreigeschossigen Holzbetten, die im KZ üblich sind. Der Stacheldraht um das Gebäude ist elektrisch geladen. Wolfgang Große schreibt in seinem Buch: „Die Weberei ist keine friedliche Arbeitsstätte mehr, sondern eine Unterkunft für Sklaven.“

Aber die Häftlinge haben einen Fürsprecher. Es gibt jemanden, der sich für sie einsetzt: der Kapo Otto Herrmann. Er stammt aus Halle, ist Kommunist und Querdenker. Er ist selbst auch Gefangener, aber ein „Funktionshäftling“. Als Kapo beaufsichtigt er in Niederorschel die Häftlinge, er hat in gewisser Weise das Kommando. Er steht zwischen den Gefangenen und der SS. Viele Kapos in den Lagern haben diese Funktion missbraucht. Otto Herrmann nicht.

„Ein außergewöhnlicher Mann. Er hatte vor Tod und Teufel und vor der SS keine Angst“, sagt Wolfgang Große. Hans Dannoritzer sieht das genauso. „Dieser Mensch hat unter unmenschlichen Bedingungen menschlich gehandelt. Er hat das Ich durch das Du ersetzt.“ Otto Herrmann begrüßt neu eingetroffene Gefangene immer mit dem gleichen Satz: „Sagt Otto zu mir.“ Ungewöhnlich für einen Kapo.

Ein anderes Beispiel. Er geht dazwischen, als ein SS-Mann einen Häftling mit dem Gewehrkolben schlägt. Otto verprügelt den Häftling eigenhändig, die anderen sind schockiert. Später, am Krankenbett, bringt Otto dem Gefangenen eine Suppe und sagt: „Ich musste das tun, die hätten Dich sonst totgeschlagen.“

Otto Herrmann verteidigt die Gefangenen, er sorgt sich um ihre Arbeitsbedingungen, er macht ihnen Mut und Hoffnung. Den SS-Leuten sagt er: Wenn ihr die Häftlinge misshandelt und tötet, müssen wir neue anlernen. Dazu haben wir aber wegen der Frontlage keine Zeit mehr. Wolfgang Große denkt sich: Dieser Mann, dieser Kapo Otto, der wäre etwas für die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Wolfgang Große sammelt alle Dokumente, alle Berichte der Zeitzeugen über den Kapo und bringt sein Vorhaben auf den Weg. Mit Erfolg. Der Staat Israel zeichnet Otto Herrmann 2004 als „Gerechten unter den Völkern“ aus.

Das Gedenken in Niederorschel ist seltsam gedoppelt. Streng genommen gibt es im Ort zwei Mahnmale. Das eine ehrt SED-Funktionäre aus der Region als Kämpfer gegen Krieg und Faschismus. Mit dem Außenkommando des KZ Buchenwald hat das nicht viel zu tun. Vor dem wuchtigen „Ehrenhain“ steht ein schlichter Gedenkstein.

Auf dem Stein stehen die Worte: „Den Opfern des KZ Buchenwald – Außenlager Niederorschel“. Darunter stehen die Namen der 19 Häftlinge, die hier umkamen. Alle starben an Lagerkrankheiten. Typhus, Fleckfieber, Lungenentzündung, Entkräftung.

Das letzte Kapitel des Außenkommandos beginnt am 1. April 1945. Das Lager wird nicht befreit, es wird aufgelöst. Die Häftlinge werden auf einen Todesmarsch nach Buchenwald geschickt. Sie erreichen ihr Ziel am 10. April abends – und müssen nur noch eine Nacht ausharren, denn am 11. April wird Buchenwald befreit.

Im April 2015 gedenkt Niederorschel der Auflösung des Außenkommandos vor 70 Jahren. Es kommen um die 100 Menschen, auch der Überlebende Laszlo Nussbaum reist an. Noch einmal geht er, gemeinsam mit Wolfgang Große und Hans Dannoritzer, den Weg vom kleinen Bahnhof zur Fabrik. Sein Kranz liegt noch am Gedenkstein, als Dirk und ich in Niederorschel sind. Auf der Schleife in grün und gold lesen wir Laszlo Nussbaums etwas sperrigen, aber unmissverständlichen Satz: „Ich wünsche, dass meine Erinnerungen niemand und jemals wieder erleben muss.“

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