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Blau gegen Rot

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

15. März 2015

Rosenmontag im Sauerland – ein Widerspruch an sich. Dachten wir. Der „Prinzenfrühschoppen“ beginnt um 11.11 Uhr und geht bis tief in die Nacht. Eine nahezu interne Veranstaltung, der Karnevalsgesellschaft Heggen e.V.. Rosenmontag im Selbstversuch: Wir singen und trinken mit, und die Heggener erzählen uns vom Leben im Dorf und jenseits davon. Wir hören mindestens 100 verschiedene Lieder und erleben live den Wettstreit der Funken- und der Prinzengarde. Am Ende staunen wir, wer um ein Uhr früh noch auf der Tanzfläche steht. Danach fehlt noch ein wichtiges Ritual, denn vorher gehen die Letzten nicht ins Bett.

Etappe:
Vor dem Hintereingang der Gaststätte Schriener frieren Menschen in Kleingruppen. Die Frauen tragen die blau-weiß-goldene Uniform der Funkengarde, die Männer das Rot-weiß der Prinzengarde. Zwei Männer haben Anzüge in pastellblau und knallorange angezogen, die beiden stehen immer nebeneinander. Der Rest trägt Zivil. Es ist spät abends am Rosenmontag. Es ist dunkel und kalt, und drinnen feiern die Heggener, als gäbe es kein Morgen und Deutschland wäre ein Lied.
Hier draußen trinken wir und rauchen. Wir reden mit den Menschen und erfahren viel über den Karneval – und darüber, wie er in Heggen funktioniert. Aber dann kommt die Musik plötzlich auch hinaus zu uns, es ist ein andächtiger Moment, irgendwann nach 23 Uhr. Hendrick und Philipp stimmen die Dorfhymne an. Sie heißt „Heggens Lob“ und ist kein Karnevalsgegröhle, sondern ein Volkslied.

Hendrick und Philipp, Bass und Tenor, der eine stämmig, der andere zierlich. Sie summen ein paar Töne, einigen sich auf einen davon – und singen. Die Melodie ist einfach und bleibt im Ohr hängen. Den Text hängt drinnen in der Gaststätte an der Wand neben dem Tresen, eingerahmt und in Sütterlin.

Schönstes Dorf im Wiesengrunde, Perle du im Biggetal,
waldumkränzt in weiter Runde, glühst du hell im Morgenstrahl.
Heimat meiner Väter Erde, dir gilt meiner Liebe Gruß.
Und wenn einst ich sterben werde, man mich hier begraben muss.
Die beiden Heggener singen auf den Punkt. Sie singen zweistimmig, und die Töne sitzen. Der Text von Dr. Theodor Rademacher ist rührselig. Wer aber Hendrick und Philipp ins Gesicht schaut, sieht dort weder Volkstümelei noch Lokalchauvinismus, sondern nur eines: Freude. Die beiden singen einfach unglaublich gern.

Es ist Karneval in Heggen, und schon morgens um elf ist klar: Wir trinken und singen mit. So gut wir können. Den Rosenmontag in Köln haben wir um 7.48 Uhr am Hauptbahnhof verlassen, gegen den Trend. Um halb zehn sind wir in Finnentrop. Wir laufen zwei Kilometer an der Bigge entlang und sehen eine Kapelle und einen Graureiher. Dann sind wir in Heggen. Vor uns gehen zwei junge Frauen in blauweißgoldener Uniform eine Anhöhe hinauf. Hier sind wir richtig. Gleich wird Patrick Hufnagel vom Elferrat uns fest die Hand schütteln und sagen: „Na, dann kommen’se mal rein.“

Heggen gehört offiziell zu Finnentrop und hat um die 3.000 Einwohner. An der Hauptstraße neben der Kirche liegen sich zwei Bäckereien gegenüber. Früher gab es 15 Kneipen, heute sind es noch drei. Der größte Arbeitgeber heißt FIUKA, Fischer und Kaufmann. Mittelständische Industrie, Autozulieferer, Umformtechnik.

Der Heggener Karneval ist in der Region bekannt. Gestern war die Schützenhalle voll, zum fünfstündigen Festprogramm kamen die „Rheinveilchen“ und die „Domstädter“ aus Köln. Die Heggener Funkengarde hatte zwei Auftritte: Erst der Gardetanz in Uniform, dann der Showtanz in Dschungelbuch-Verkleidung. Dazwischen abschminken und neu schminken: Für die Funkengarde ist Karneval ein Hamsterrad, es bleibt wenig Zeit zum Ausatmen.

Dafür haben sie dann den Frühschoppen bei Schriener. Der Saal ist viel kleiner und intimer als die Schützenhalle. Hier sind Heggener Vereinsmenschen unter sich. Gastgeber sind die drei Prinzen: Kinderprinz Finn I., Jugendprinz Patrick III. und Prinz Thomas III. Auf den Tischen liegen Papierdecken mit aufgedruckten Luftballons in blau, gelb, rot und grün. An den Wänden hängen Girlanden, die Möbel sind Eiche rustikal und gehen nicht kaputt.

Vorne am Mikrofon steht Jürgen Sprenger. Er ist Präsident der Karnevalsgesellschaft, trinkt keinen Tropfen Alkohol und moderiert liebevoll und betulich bis 22 Uhr. Er und die anderen Karnevalisten – denn jeder darf hier ans Mikro – erzählen mittelgute Witze, in denen es um Blondinen und Sex oder um beides geht. Sie halten freundliche Reden, verteilen Orden, spielen Theater und rufen laut „Heggen“. Der Saal ruft dann zurück: „Helau“. Das Ganze drei Mal.

Die Menschen an den Tischen sind nach Geschlechtern und Gruppen sortiert – zumindest bis zum Nachmittag, danach geraten die Kategorien durcheinander. Jetzt, gegen Mittag, sitzt vorne links am Fenster die Funkengarde, eine Schar ausgelassener Mädchen, die jeden besingen, der ihnen einen ausgibt. In der Mitte davor sitzt die Prinzengarde: ein fröhlicher Haufen von Jungs, die das Trinken sportlich nehmen und das jedem erklären, der sie danach fragt. Ganz vorne am Eingang sitzt der Jugendelferrat, rechts an der Wand der Elferrat und hinten in Richtung Theke das Showballett.

Die Getränke kenne ich aus meiner Jugend. Die Heggener trinken Fanta-Korn und Sprite-Korn, aber nicht aus dem Glas, sondern aus dem gläsernen Stiefel. Die Jungs trinken direkt, die Mädels anfangs noch aus extrem langen Strohhalmen. Das hört dann später auf. An der Theke erfrage ich die Mischung: 1,5 Liter passen in einen Stiefel, davon sind 0,3 Liter Korn. Es gibt auch andere Schnäpse, zum Beispiel die furchterregende „Stinke“, einen Kräuterbitter vom Niederrhein, den man nur betrunken hinunterbekommt (und auch dann nur einen).

Das Dauergetränk aber ist das Bier. Es wird permanent frisch gezapft und kommt in kleinen schlanken Gläsern in den Saal. Monika Mertens trägt das grüne T-Shirt mit dem Schriftzug „Gasthof Schriener – seit 1886“ und schleppt ein Tablett nach dem anderen. Im Gegenzug sammelt sie grüne Bons ein. Monika Mertens ist eine Wucht von Kellnerin: gewissenhaft, dezent und unerschütterlich freundlich, und das seit Stunden.

Deutschland ist immer noch ein Lied. Die Menschen im Saal singen ohne Pause bis in die Nacht. Sie singen „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, sie singen „Trink trink, Brüderlein trink“, sie singen „Es gibt kein Bier auf Hawaii“. Uns fallen zwei altdeutsche Fundstücke auf: „Kornblumenblau ist der Himmel am herrlichen Rheine“ und „Ich hab den Vater Rhein in seinem Bett gesehen“. Ich kannte beide nicht, hier kennt sie jeder, mit allen Strophen. Textsicherheit ist in Heggen nichts, worüber man ein Wort verlieren müsste.

Außer den Karnevalsliedern gibt es die Schlachtrufe. Sehr beliebt ist „Oh, oh, oh, das wird teuer“ oder „uj-uj-uj“ und „au-au-au“, gefolgt von „Du Sau!“ Etwas länger dauern Mallorca-Perlen wie: „Ich hab‘ dich auch schon schlanker gesehen, du hast ein Gewichtsproblem.“ Oder „Geh mal Bier holen, Du wirst schon wieder hässlich“.

Und dann gibt es den Wettstreit der Roten und der Blauen. „Das ist eine Hassliebe“, sagt Peter aus der Prinzengarde. Die Prinzengarde, das sind die Roten. Die Funkengarde sind die Blauen. Und beide singen regelmäßig und leidenschaftlich gegeneinander: Die Funkengarde singt „Die Roten, die Roten, das sind die Vollidioten“, die Prinzengarde brüllt zurück: „Die Blauen, die Blauen, das sind die dicken Frauen“. Alle lachen und stoßen an. Und plötzlich ist da ein ganz starkes Gefühl von Zugehörigkeit im Saal. Der Verein hält zusammen. Viel später singen Rot und Blau und alle anderen im Saal „Country Road, take me home“, und ich bekomme eine Gänsehaut.

Sabrina Wilmes kennt diese Zugehörigkeit seit vielen Jahren. Sie ist eine von zwei Trainerinnen der Funkengarde und arbeitet als Kinderkrankenschwester in Bonn. „Ich bin da reingewachsen, von klein auf“, sagt sie. „Meine Mutter war Funkenmariechen, mein Vater war letztes Jahr Prinz. Heute ist Heggen meine Wochenendheimat. Wir trainieren zweimal die Woche mit den Mädels, und wir sind alle gut befreundet.“

Das Wort ‚Zusammenhalt‘ hören wir auch von Patrick Hunold, dem Präsidenten des Jugendelferrates. Er macht eine Ausbildung als Fachkraft für Lagerlogistik in Attendorn und lernt gerade für die Prüfung. „Ich bin hier verwurzelt, und diese Kultur will ich nicht missen“, sagt er, und die Orden um seinen Hals klingeln. Er ist nicht nur im Karnevalsverein, er ist auch im Schützenverein und bei der Feuerwehr. Für Patrick steht fest: Er wird das Sauerland nie verlassen.

Ganz anders geht es Michael: Er hat „Business Administration“ studiert und in Australien seine dänische Frau kennengelernt – danach hat sie Heggen kennengelernt (und mag es). Inzwischen leben beide mit ihrem Kind in Kopenhagen, und der Anschlag auf das Kulturzentrum am 14. Februar geschah 300 Meter entfernt von der Wohnung seiner Schwiegereltern. „Heute beim Feiern spielt das Thema nicht so die große Rolle“, sagt er. „Aber in den letzten Tagen bin ich im Dorf oft danach gefragt worden.“

Auch die deutsche Politik findet ihren Weg in diesen Rosenmontag, und das ist Janis zu verdanken. Die zierliche Frau ist ein Phänomen: Nach zwölf Stunden Feiern nonstop diskutiert sie um elf Uhr abends mit uns über Pegida und Flüchtlinge. Sie ist offen, sie ist interessiert, sie hakt nach. Warum berichten die Medien so viel über Pegida? Gebt ihr denen damit nicht zu viel Raum? Was haben manche Deutsche bloß gegen Flüchtlinge? Janis stellt eine Frage nach der anderen, sie lässt nicht locker. Kommt irgendwer zu unserem Gespräch dazu, sagt sie: „Ich weiß, ich weiß, du willst das natürlich nicht hören, aber ich muss das jetzt noch wissen. Also: Warum…“ Es ist ein überraschender, ein intensiver Austausch.

Dirk und ich gehen nicht mehr mit zum letzten Akt. Das „Eierbacken“ ist das Ritual, mit dem Abende wie diese endgültig zu Ende gehen. Eierbacken ist eine herrliche, eine riesige Sauerei. Die letzten Gäste pilgern zu einem aus der Gruppe nach Hause, und schauen, was noch Eiern da ist. Die werden dann als Rührei gebraten. Die reine Lehre besagt, dass das direkt auf der Herdplatte geschieht. Weil das aber eine noch größere Sauerei gibt, ist auch eine Pfanne erlaubt.

Michael über die Anschläge in Kopenhagen

Das war der Karneval. Wir schlafen in der Jugendherberge ein paar Minuten entfernt, und am nächsten Morgen brechen wir verkatert in Richtung Osten auf. 20 Kilometer liegen vor uns, wir werden drei Flüsse überqueren und mit vereisten Waldwegen kämpfen. Ich denke noch den ganzen Tag lang an den Rosenmontag in Heggen, an die Funken- und die Prinzengarde. Ein ziemlich klares Gefühl ist dabei. Es rührt wohl daher, dass ich vieles in der Gaststätte Schriener früher selbst erlebt habe. Das Gefühl hat einen deutschen Namen: Es lautet Heimweh.

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