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  • Eingang zur Grundschule in Pannschwitz-Kuckau

Die Kinder von Panschwitz-Kuckau

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

24. Oktober 2015

Das Land der Sorben hat einen eigenen Klang. Hier tragen die Orte Namen wie in Sagen: Njebjelcicy, Nebelschütz. Swinjarnja, Schweinerden. Damit wir die Geschichte der Gegend verstehen, fährt ein 80-Jähriger mit uns über Land, joggt für uns einen historischen Burgwall hinauf und erklärt, was Rundlinge sind. In der Grundschule von Panschwitz-Kuckau lernen die Kinder Deutsch und Sorbisch. Wir lernen mit und erleben 20 Mädchen und Jungen, die mit strahlenden Augen die Schulhymne singen. Und Krabat treffen wir auch.

Etappe:

In Kamenz wird die Welt zweisprachig. Es ist ein Vormittag im September, und wir sind auf dem Weg zu den Sorben. Die S100 führt schnurstracks von Kamenz nach Bautzen, von Kamjenc nach Budyšin. Einen Gehweg gibt es nicht, also laufen wir am Straßenrand. Die Sonne scheint, es ist windig und warm. Hinter Kamenz geht es ein Stück durch den Wald, dann entlang an spätsommerlichen Feldern. Es sind gute zehn Kilometer bis Panschwitz-Kuckau.

In Kamenz wird die Welt zweisprachig. Es ist ein Vormittag im September, und wir sind auf dem Weg zu den Sorben. Die S100 führt schnurstracks von Kamenz nach Bautzen, von Kamjenc nach Budyšin. Einen Gehweg gibt es nicht, also laufen wir am Straßenrand. Die Sonne scheint, es ist windig und warm. Hinter Kamenz geht es ein Stück durch den Wald, dann entlang an spätsommerlichen Feldern. Es sind gute zehn Kilometer bis Panschwitz-Kuckau.

Die Grundschule, die wir suchen, liegt an der Hauptstraße und ist nur drinnen schön. Es ist ein DDR-Bau von 1951, frei von Ästhetik, mit einem schwarzen Schriftzug auf der sandbraunen Fassade. „Šula Ćišinskeho“ steht dort in Großbuchstaben. Die Schule trägt wie die Straße den Namen des bekanntesten sorbischen Dichters: Jakub Bart-Ćišinski. Er wurde in Kuckau geboren und starb in Panschwitz. Beides ist heute eins. Ćišinski ist ein selbstgewählter Zusatz und bedeutet: „der Stille“.

Krabat Fenster in der sorbischen Grundschule in Panschwitz-Kuckau
Wir klingeln am Schuleingang, die Tür summt. Links führt eine Treppe hinauf, und oben sehen wir ein großes Fenster aus buntem Glas. Die Schulleiterin erklärt uns später, dass die vier Köpfe im Fenster schlechterdings gar nichts mit der DDR zu tun haben. Es sind sorbische Sagengestalten. Zu meiner Freude ist einer davon Krabat, der Zauberlehrling aus Otfried Preußlers Roman. Der sorbische Faust wird er auch genannt. Die meisten der Krabat-Legenden spielen 25 Kilometer weiter nördlich, rund um Hoyerswerda.

Im Glasfenster der Ćišinski-Schule schaut der Zauberer streng, und jung ist er nicht. Aber in der sorbischen Originalsage ist er eben nicht nur der Schüler, sondern vor allem ein erwachsener Mann, der mit seiner Kutsche durch die Luft reist und deshalb einmal am Kirchturm von Kamenz hängenbleibt. Im Schulfenster hat er einen weißen Schnurrbart und hält ein orangefarbenes Zauberbuch in den Händen. Wenn die Sonne scheint, malt das Fenster bunte Flecken auf Boden und Wände.

Links von Krabat sehen wir eine märchenhaft schöne, blonde Gestalt mit blauer Sichel in der Hand. Es ist die „Mittagsfrau“, ein sorbischer Naturgeist, der leider den Tod bringt. Mit ihrer Sichel schneidet die Mittagsfrau Knechten und Mägden den Kopf ab, wenn sie nicht um punkt 12 Uhr runter sind vom Feld. Wenn jemand bei der Arbeit einen Hitzschlag erlitt, sagte man gern: Das war die Mittagsfrau.

Unten links im Fenster schaut verschmitzt ein kleiner Lutk, ein Kobold. Die Lutki helfen den Armen, sie sind eine sorbische Variante der kölschen Heinzelmännchen. Und rechts neben dem Kobold lächelt vertrauensvoll der Wassermann. Er ist nichts für Kinder, denn wer zu nah ans Ufer tritt, den zieht er hinab ins Blau. Ich mag die vier Sagengestalten.

Eine Frau kommt auf uns zu. „Meine Kolleginnen meinten, dass da zwei Männer warten“, sagt sie. Die Frau heißt Jadwiga Zschieschang. Sie ist Schulleiterin, sympathisch, und bittet uns in ihr Büro. Dort fragt sie geradeheraus: „Also, was wollen Sie hier?“ Wir stellen uns vor, sie nickt. „Wenn Sie nicht vom Deutschlandfunk wären, hätte ich sie wahrscheinlich wieder weggeschickt“, sagt sie. Wir vereinbaren, in gut zwei Stunden zum Interview wiederzukommen. Dann ist Mittag, und bis dahin will sie klären, ob wir am nächsten Tag mit in den Unterricht können.

Wir nutzen die Zeit bis zum Interview. Ein Tipp vom Bürgermeister: Wenn Sie etwas über die Sorben lernen wollen, dann rufen Sie Alfons Kuhring an, der weiß alles. Alfons Kuhring ist 80, packt uns in sein Auto und fährt mit uns von Dorf zu Dorf. Schon bald ist uns schwindlig vor Daten. Alfons Kuhring kennt jedes Haus, jede Straße, jeden Namen, jede Kirche, jeden Friedhof. Und jede Befestigungsanlage. Im Ortsteil Ostro zeigt er uns im Wald eine 2.500 Jahre alte Schanze, einen historischen Schutzwall. Im Mittelalter lebten hier Vorfahren der Sorben. Alfons Kuhring joggt mit uns hinauf zur Schanze, ohne nennenswert außer Atem zu kommen. Von mir kann ich das nicht behaupten.

Danach fahren wir nach Schweinerden, drei Kilometer weiter. Schweinerden ist nicht nur ein herrliches Wort, sondern auch ein besonders sorbisches Dörfchen, das komplett unter Denkmalschutz steht. Das liegt an der Baustruktur: Klassischerweise ist sie hier rund, und das Fachwort heißt tatsächlich „Rundling“. Bei einem Rundling sind Häuser und Höfe wie Sonnenstrahlen um einen zentralen Platz oder Teich angeordnet. In Schweinerden steht ein Rundling in Vollendung. Hier ist die Mitte – das Herzstück – ein Teich mit Bäumen.

Friedhof in Rablitz mit weissen Kreuzen
Wir fahren weiter über Land, am Himmel über uns ziehen Wolken vorbei. Die Sorben stammen von westslawischen Stämmen ab, die im Zuge der Völkerwanderung ab dem 6. Jahrhundert herkamen. Heute gibt es rund 60.000 Sorben in Deutschland, und wir sind gerade im Herzen ihrer Region. Das Land ist ein bisschen hügelig, wir sind auf dem Weg nach Ralbitz. Dort will uns Alfons Kuhring den Friedhof zeigen. Vor dem Eingangstor rechts steht ein Apfelbaum, die Äpfel sind reif und haben rote Backen. Sie sind herrlich knackig und saftig.

Dann stehen wir auf dem Friedhof. Dort leuchten 300 Holzkreuze weiß und golden in der Mittagssonne. Die Kreuze sind alle identisch, und die Bedeutung ist klar: Im Tode sind wir alle gleich. Auf dem Querbalken der Kreuze ist eine goldene Jesusfigur angebracht, am Fuß eine ovale, weiße Holzscheibe. Dort stehen die Namen der Toten und die letzten Wünsche, oft auf Sorbisch. „Spi w pokoju!“ lese ich. „Ruhe in Frieden“ übersetzt Alfons Kuhring. Oder „Tu wotpočuje w Bohu“ – „Hier ruhet in Gott“.

Wir fahren zurück nach Panschwitz-Kuckau. Ich sitze auf dem Beifahrersitz und bitte Alfons Kuhring, mir ein paar Sätze Sorbisch ins Mikrofon zu sagen. Das Sorbische ist eine westslawische Sprache und ähnelt dem Slowakischen, dem Tschechischen und dem Polnischen. Dirk versteht wenigstens den Kontext, denn er kann etwas Polnisch. Ich verstehe kein Wort. Aber mir fallen bestimmte Laute auf: Das  „sch“, das oft wie „tsch“ klingt, das offene o, das gerollte r. In meinen Ohren platscht und rumpelt das Sorbische sehr angenehm.

Alfons Kuhring singt am Lenkrad noch ein sorbisches Lied für uns, dann setzt er uns an der Grundschule ab. Es geht Schlag auf Schlag, denn Jadwiga Zschieschang wartet schon. Wir sitzen wieder in ihrem Büro, diesmal mit eingeschaltetem Aufnahmegerät und bitten Sie, sich vorzustellen. Die Schulleiterin ist in den Fünfzigern, sie ist hier im Ort geboren, sie ist auch hier zur Schule gegangen, sie lebt im Ortsteil Jauer, und sie sagt von sich selbst, sie sei „sorbischer Nationalität“. Schon ihre Mutter hat an der Schule unterrichtet, sie selbst ist seit 1992 Schulleiterin.

Jadwiga Zschieschang hat am „SIFL“ studiert, dem Sorbischen Institut für Lehrerbildung in Bautzen. Gearbeitet hat sie an einer Förderschule, erst im Hort als Erzieherin, dann als junge Lehrerin. „Die Schüler waren vier Jahre jünger als ich“, sagt sie. Was hat sie gelernt? „Dass man geduldig sein muss. Und dass auch Kinder mit Schwierigkeiten Erfolge meistern können.“

Die Grundschule von Panschwitz-Kuckau hat 94 Kinder in sechs Klassen. Es gibt eine erste, zwei zweite und dritte Klassen und eine vierte. Die Kinder kommen aus unterschiedlichen Familien: Manche wachsen mit dem Sorbischen als Muttersprache auf, manche lernen es erst hier in der Schule. Zweisprachigkeit heißt, dass die Kinder in allen Fächern gemeinsam in beiden Sprachen unterrichtet werden. Nur der Sprachunterricht selbst findet getrennt statt, dafür ist der Sprachstand zu unterschiedlich.

Jadwiga Zwschieschang berichtet uns vom Schulalltag. Im Land der Sorben gibt es bis heute eine Reihe von Bräuchen wie das Maibaumwerfen und die Vogelhochzeit. Beides erleben die Kinder auch in der Schule. Einer der schönsten Tage ist der 25. Januar, denn dann ist Vogelhochzeit. Das ist ein bisschen wie Nikolaus, denn die Kinder stellen am Abend vorher einen Teller auf das Fensterbrett – und bekommen nachts etwas Süßes hinein. Allerdings nicht vom Nikolaus, sondern von den Vögeln, die sich für das Füttern im Winter bedanken.

Der Höhepunkt ist aber die eigentliche Hochzeit – in sorbischer Tracht, auch für die Kinder. Es gibt eine Braut, einen Bräutigam, und einen Braschka. Das ist der Hochzeitsbitter, der von Haus zu Haus geht und die Gäste zur Hochzeit bittet. Dann gibt es noch die Patinnen, die Brautjungfern, außerdem Köche, Gäste und eine Reihe von Vögelchen, damit auch jedes Kind eine Verkleidung bekommt.

Jadwiga Zschieschang über die Mittagsfrau

In der zweiten Stunde wechseln wir die Klasse. Die Kinderbuchautorin Dorothea Šołćina ist zu Besuch und liest aus ihrem neuen Buch. 20 Kinder hören zu, links von mir sitzen Antonia und Felicitas, beide neun Jahre alt. Sie lauschen, schweifen ab, stützen den Kopf auf den Ellbogen und hören Geschichten von Kindern und Tieren – zum Beispiel die von dem Hund, der Salto schlagen kann. Alles auf Sorbisch. Ich verstehe schon wieder kein Wort und keinen einzigen Witz, aber lustig scheint das Buch zu sein, denn die Kinder lachen zwischendurch.

Dann singen alle die Schulhymne – als Dankeschön an die Kinderbuchautorin. Und weil ich die auch nicht verstehe, bitte ich Jadwiga Zschieschang, mir den deutschen Text zu mailen (s.u.) Dann steigen wir direkt vor der Schule in den Bus – und erfahren am eigenen Leibe, wie weit weg wir von Köln sind: Der Bus geht um 10.38 Uhr, und um 20.45 Uhr sind wir zurück im Rheinland.

Refrain
„Wir sind die Kinder der Ćišinski-Schule, alle Kinder kennen seinen Namen,
 Jakub Bart-Ćišinski war ein Dichter, damit hat er uns ein besonderes Vermächtnis hinterlassen.“

1. Strophe
In unserer Schule ist es schön. Schreiben, rechnen lernt hier jeder.
 Die sorbischen und deutschen Kinder lernen gemeinsam freundschaftlich.
2. Strophe
Die sorbische Sprache und Heimat, so wird über ihn berichtet,
 waren ihm über alles wichtig und wertvoll, so wie uns heute noch.

(Übersetzung aus dem Sorbischen)

Ein Kommentar

  1. Günter Starke 3. November 2015 um 10:48 Uhr

    Danke für Euer schönes, interessantes Projekt.
    Bei dem Sorben-Tag habt Ihr leider als KRABAT-Schriftsteller den Deutschen Preußler erwähnt, aber nicht den eigentlichen KRABAT-Erzähler Jurij Brezan. Preußler war bloß bissl marktkompatibler und konnte gut abschreiben.
    Seht Euch mal den Brezan_KRABAT mit den wunderbar naiven Zeichnungen von Mircin Nowak-Nechornski (Martin Neumann- Nechern) an. Von dem stammen auch die Entwürfe im Schulhaus.
    Und dann noch den modernen „Krabat, oder die Verwandlung der Welt“ lesen!
    Neues Leben 1976
    Suhrkamp TB 2004
    Geschrieben angesichts der Neutronenbombengefahr und dem NATO-Doppelbeschluß.

    Danke für Eure Arbeit!!
    Günter Starke DGPh

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