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Im Orketal

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

5. April 2015

„Das ist die absolute Einsamkeit“, sagt Almut Kroll. Ein Tal, ein Fluss, der Wald: Das sind die Koordinaten ihres Lebens. Das sie genau so leben will. Mit ihrem Mann Peter Kroll, dem Förster. Almut arbeitet in einer Praxis in Winterberg und freut sich immer, wenn sie nach Hause fährt, hinunter ins Orketal. Wir laufen lange durch den Buchenwald, treffen Azubis mit der Motorsäge und schlafen mutterseelenallein in einer Jagdhütte oben auf einem Berg, der auch noch Giebel heißt. Kein fließend Wasser, kein Strom, dafür ein Ofen. Und der Ruf des Käuzchens, dazu die schweren Tropfen des schmelzenden Schnees.

Etappe:
„Reinsägen“: Das Wort bleibt hängen. Es versinnbildlicht alles, was das Leben im Tal ausmacht. Peter Kroll gebraucht das Wort, wenn er von Kyrill erzählt. Am 18. Januar 2007 sitzt seine Familie im Forsthaus, es ist später Nachmittag, draußen tobt der Sturm. Die Geräuschkulisse muss unheimlich gewesen sein. Der Orkan in den Bäumen. Alle können hören, dass rund um das Haus etwas passiert. Nachbarn gibt es keine, keinen Menschen im Umkreis von drei Kilometern.
Gegen 21 Uhr wird es draußen ruhiger. Peter Kroll traut sich jetzt. Er geht nachschauen, „mit der Taschenlampe“, sagt er, um rauszufinden, „ob wir aus dem Tal überhaupt wieder rauskommen“. Die Antwort lautet nein. Alle Haupt- und Nebenwege sind dicht. Umgestürzte Bäume, überall. Es geht gar nichts. Vollkommen abgeschnitten, das Forsthaus. Am nächsten Morgen ruft Peter Kroll seine Mitarbeiter an, Forstwirte, Azubis. Sie beginnen, sich in das Orketal reinzusägen. Eine Verbindung zur Außenwelt. An einer Stelle steht ein Feuerwehrauto, eingekeilt zwischen den Bäumen. An einer anderen müssen sie einen Tunnel sägen – die Stämme liegen wie ein Dach über dem Weg. Durch den Tunnel kann man später tatsächlich fahren.

Das Leben im Orketal muss man abkönnen. Es gibt keinen Schnack am Gartenzaun, keine Freunde in Fußweite, keine Läden, keine Kneipe, es gibt gar nichts. Es gibt streng genommen keine Zivilisation, zumindest keinen Konsum, keine Lautstärke, keinen Stau. Aber es gibt den Wald. Den herrlichen, alten Buchenwald, der sich die Hügel emporzieht.

Die Buche ist der Ur-Baum. Sie gehört hierher, sie würde 90 Prozent der Waldfläche bedecken, wenn sie dürfte. Im „Waldreservat Glindfeld-Orketal“ darf sie, denn das ist das erklärte Ziel: den Hainsimsenbuchenwald zu bewahren. Oben Buche, unten Hainsimse, das ist ein Binsengewächs. Die beiden gehören zusammen, eine gewachsene Partnerschaft, ein deutsches Biotop.

Peter Kroll ist hier der Förster, und er nimmt uns mit in den Wald. Wir laufen vom Forsthaus los, das tief im Tal liegt. Fachwerk, Nebengebäude, eine Heimstatt. Wir überqueren die Orke und hören die Kohlmeise, die wie eine Luftpumpe singt und den Frühling ankündigt. Vögel gibt es hier viele, und viele stehen auf der Roten Liste. Raubwürger, Neuntöter, Schwarzstorch, Rotmilan. Vor ein paar Jahren hat Peter Kroll noch Rebhühner gesehen. Und bis heute freut er sich, wenn er einen Eisvogel entdeckt, orange und hellblau, unten am Fluss. Oben im Wald leben die Käuze. Der Raufußkauz, der kleine Sperlingskauz. Schwarzspecht, Bussard, Uhu: Es sind Namen wie im Märchen.

Peter Kroll über Kyrill

Rechts der Wald, links das Tal. Es ist nicht mehr so kalt hier im Rothaargebirge, zwischendurch kommt die Sonne durch, und sie wärmt schon. Wir biegen rechts ab in ein Seitental, wir wollen zu Peter Krolls Auszubildenden, die irgendwo da oben im Wald sägen. Noch hören wir nichts, es geht jetzt bergauf, die ersten Schneeflecken tauchen auf, der Schnee ist schon alt, bald ist er fort. Wir laufen über Grauwacke, das ist der Heimatstein hier, der mit seinen gezackten Kacheln an Schiefer erinnert.
Peter Kroll erklärt uns den Wald. Das Orketal ist ein Hochtal zwischen Winterberg und Medelon. Neben der Buche wächst hier die Fichte, die eigentlich nicht dazugehört, denn Nadelhölzer gab es hier vor 500 Jahren keine. Heute gibt es nicht nur die Fichte, sondern auch die Douglasie. Sie braucht weniger Wasser und wird bis zu 50 Meter hoch. Der Wald ist altes preußisches Revier, die Douglasie kam aus Nordamerika. Die Staatsverwaltung kaufte damals, 1888, von einem Händler aus Hamburg das Saatgut, das tütenweise an die Förstereien verteilt wurde. Ein Test-Baum, der durchgehalten hat.

Peter Kroll ist fest angestellt, er ist Beamter Nordrhrein-Westfalens, beim „Landesbetrieb Wald und Holz“. Sein Vater war Förster, der Sohn wollte nie etwas anderes werden, auch wenn ein Förster heute viel Zeit am Computer verbringt. „Wir müssen alles erfassen“, sagt er. Betriebsanweisungen, Lohnabrechnungen, Jagdplanung. Denn Jäger ist Peter Kroll auch, so wie seine Frau und seine beiden Kinder.

„Früher“, sagt er und lacht, „war das Forsthaus eine Strafversetzungsstelle“. Das Haus ist Baujahr 1854, und ein paar Jahrzehnte später soll einer der Förster ausdrücklich um seine Versetzung gebeten haben: Die Einsamkeit schlug ihm aufs Gemüt. Für Peter Kroll und seine Frau Almut ist das Forsthaus ein Lebensentwurf, die Einsamkeit ist gewollt. „Man muss sich selbst genug sein“, wird Almut später sagen, bei Kaffee und frischen Berlinern mit Marmeladenfüllung in der Küche.

Aber jetzt sind wir im Wald, immer weiter oben. Die Sonne schaut durch die Äste, wir erreichen die „Dicke Buche“. Sie war früher ein Ausflugsziel für die Menschen aus der Gegend, für ein Picknick im Wald. 1994 fiel sie um. Heute ist von der „Dicken Buche“ nur noch ein großes Stück Stamm mit Wurzel zu sehen, darauf wachsen Bäume. Peter Kroll mag dieses Bild. Er mag es, weil der neue Wald aus dem alten entsteht.

Forstwirtschaft im Jahre 2015. Peter Kroll verwendet regelmäßig das Wort „Verjüngung“. Es gibt Kunstverjüngung, da hilft der Mensch mit dem Pflanzen von Bäumen nach. Und es gibt die Naturverjüngung. Das bedeutet, dass die Buchen sich selbst vermehren – und der Mensch nicht künstlich eingreift. Erst vor ein paar Minuten hatte Peter Kroll mit der Hand hinüber in den Wald gedeutet: „Schauen Sie mal“, hatte er gesagt, „das ist ein alter Buchenbestand, aber zwischen den Bäumen steht schon die nächste Generation. Die warten nur noch auf mehr Licht, und wir brauchen keinen Euro dafür auszugeben.“

Almut Kroll über Einsamkeit

Wie viel Eingriff muss, wie viel darf sein? Das Fachwort „durchforsten“ kannte ich bisher nur im Sinne von „suchen“, also zum Beispiel einen Schrank zu durchforsten. Für den Förster heißt es: Bäume rausnehmen. Zum Beispiel Fichten. Oder alte Bäume am Wegesrand (am Orkeweg stehen welche, die sonst umfallen würden – und dann müsste man sich wieder reinsägen zum Forsthaus). „Wir arbeiten nachhaltig“, sagt Peter Kroll. „Wir machen uns viele Gedanken über das, was danach kommt“.
Einer dieser Gedanken hat mit räumlicher Nähe zu tun. Wenn in seinem Wald Bäume geschlagen und zu Bauholz verarbeitet werden, sagt er, dann heißt das: Das Holz kommt aus der Region. „Sonst käme es aus den Tropen, und da scheren sich viele nicht um die Folgen und nehmen Kahlschlag in Kauf.“ Hier im Reservat ist das anders: Es wird nur so viel Holz genutzt, wie auch nachwächst. „Dafür lebe ich“, sagt Peter Kroll. „Dafür arbeite ich, und das möchte ich den Menschen erklären.“

Die Sätze sind die Grundlage seiner Forstwirt-Philosophie. Offen sagt er uns, dass die „Forstpartie“ – so nennt sich die Branche – eher konservativ geprägt sei. Sie habe erst vor ein paar Jahren begriffen, dass sie ihre Arbeit erklären, dass sie kommunizieren müsse. Zum Beispiel, warum das Fällen von Bäumen nützlich sein kann. Und, noch heikler: Warum auch die Jagd ihren Beitrag leisten kann zur Nachhaltigkeit. Forst und Jagd gehören für Peter Kroll zusammen. „Es ist optimal, wenn das in einer Hand liegt“, sagt er. Bei ihm liegt es in einer Hand.

Nach seiner Auffassung dient auch die Jagd dazu, dass der Wald wachsen kann. Das bedeutet, an Orten zu jagen, wo die Bäume sehr jung sind, wie nach Kyrill. Mit der Jagd will Peter Kroll all jene Flächen schützen, wo es viel „Verbiss“ gibt. Das geht ein paar Jahre lang, bis die Bäume stark genug sind. Der Leitsatz steht auf der Homepage seines Arbeitgebers, des Landes NRW: „Die Ausübung der Jagd in Nordrhein-Westfalen soll tierschutzgerecht und nachhaltig erfolgen und dazu beitragen, naturnahe Forstwirtschaft auf ganzer Fläche zu ermöglichen.“

Birgit Königs vom Naturschutzbund NRW gefällt der Ansatz von Peter Kroll, zum Beispiel das Ziel, den ursprünglichen Hainsimsenbuchwald zu bewahren. „Wir sind vollkommen einverstanden“, sagt sie am Telefon, „wenn der Wald standortgerecht und lebensraumtypisch wachsen darf und die Nutzung das im Blick behält. Es sollte aber auch Bereiche geben, die nicht genutzt werden.“

Gibt es, auch hier im Reservat: Weiter oben auf dem Hang steht ein Stück Wald mit besonders alten, aber kleineren, knorrigen Eichen und Buchen. „Märchenwald“ heißt dieser Abschnitt, weil die Bäume an skurrile Gestalten erinnern. Geister, Feen, Zauberer. Es gibt hier viele Steine im Boden, viel Wind, für Bauholz taugen die Bäume nicht, also dürfen sie einfach wachsen.

Birgit Königs betont auch, dass der Naturschutzbund die Jagd nicht grundsätzlich ablehnt. „Dem NABU ist es wichtig, dass die Jäger nicht einfach schießen, um zu schießen.“ Sie meint damit: Dass ein Jäger auf das natürliche Gleichgewicht in der Tierwelt achtet. Ich merke schnell: Das Thema Jagd ist hochsensibel, gerade in NRW. Seit Monaten schon dauert der Streit über die geplante Reform des Landesjagdgesetzes, die Positionen vom NABU und vom Landesjagdverband gehen auseinander.

Es ist 15 Uhr im Wald. Vor uns auf dem Weg steigen Männer aus einem Kleinlaster. Zwei Azubis, ein Schülerpraktikant und ein Forstwirtschaftsmeister. Julian Brakemeier, Alexander Kaiser, Florian Schäfer, Heribert Peters. Die Mittagspause ist vorüber, gleich wird es laut. Ein Kunde aus Medelon hat Brennholz bestellt, zehn Kubikmeter. Die vier Männer müssen Bäume fällen, in meterlange Stücke sägen, die Stücke spalten und aufschichten. Einmetern, noch so ein Wort.

Der Wald ist ein Konzert. Die Sonne fällt durch die kahlen Bäume auf das rotbraune Laub, die Motorsägen brummen mehrstimmig, dazu das dumpfe Klopfen des Spalthammers (das ist eine Axt, deren Schneide einen stumpferen Winkel hat). Es gibt einen famosen Hall hier im Wald, es ist kein Echo, sondern die Akustik einer großen Säulenhalle. Nur dass die Säulen hier Buchen sind.

Alexander Kaiser ist 20 Jahre alt und redet nicht viel. Aber was er sagt, sitzt. „Ich wollte etwas körperlich Anstrengendes lernen, und ich bin gerne draußen“, meint er. „In einer Firma könnte ich nicht sein.“ Alexander hat den breiten, westfälischen Klang in der Stimme. „Ich mache in meiner Freizeit auch viel Holz“, sagt er. Er baut Hochsitze, schneidet Jagdschneisen frei und hilft überall dort, wo Menschen jemanden brauchen, der mit Holz kann (und darf).
Ein paar Meter weiter steht Heribert Peters, der Meister. Was ist mit den Frauen im Wald? Warum gibt es so wenige Azubinen? „Es gibt Frauen, die es machen, und sie machen es gut. Aber manchmal stoßen sie an die Grenzen“, sagt er. „Auf Dauer ist die Holzernte etwas zu schwer“. Heribert Peters rät den Forstwirtinnen, sich nach der Ausbildung höher zu qualifizieren – damit sie andere Arbeit in der Branche machen können.

Die Sonne steht jetzt tiefer, es wird frisch, der Frühling hat noch nicht so viel Kraft. Hier im Orketal ist sowieso länger Winter, und danach wird es plötzlich Sommer. Wir sehen das Forsthaus auf der anderen Seite des Tales, durch eine Schneise im Wald. Noch eine halbe Stunde, dann sitzen wir in der Küche, jetzt ist auch Almut Kroll da. Sie arbeitet in einer orthopädischen Praxis in Winterberg, eine Viertelstunde mit dem Auto.

Almut Kroll findet Worte für das Leben im Tal. Sie ist gern allein. „Ich kam hierher, und dann waren wir da“, sagt sie. „Und es war sofort ein Zuhause.“ Bis heute freut sie sich, wenn sie heimfährt, hinunter ins Tal. „Der erste Sonnenstrahl, der das Haus erhascht, kommt Anfang März. Wir sitzen im Sommer oft draußen, man hört die Orke, aber sonst hört man… (sie macht eine Pause)… nichts.“ Viele können das nicht, dieses Leben in Abgeschiedenheit, sagt sie. Ihr und ihrem Mann ist es wichtig.

Dirk und ich bekommen an diesem Tag zumindest eine Ahnung davon, was es heißt, allein zu leben. Wir dürfen in der Jagdhütte auf dem „Giebel“ schlafen, das ist einer der Berge hier, 675 Meter hoch. Oben liegt noch viel Schnee, der Allrad-Wagen von Peter Kroll muss arbeiten, um den steilen, harschigen Waldweg hinaufzukommen. Ein paar Schritte durch den Schnee, da ist die Hütte. Und drinnen ist es warm. Die Azubis haben den Ofen angefeuert, das Gusseisen verstrahlt ungefilterte Hitze.

Almut Kroll über den Frühling im Orketal

Peter Kroll sagt tschüss, und Dirk und ich schauen uns um. Eine Küchenhexe steht da (so nennt man die alten Herde zum Anfeuern), zwei Bauernschränke, Tisch und Stühle. Die Hütte ist 100 Jahre alt, der Steinboden ist kalt, und es gibt kein Bett (was wir wussten). Also schlafe ich auf zwei zusammengeschobenen Tischen und Dirk auf dem Boden, auf zwei Isomatten, übereinander gelegt. Keiner von uns friert.
Und draußen tropft es. Denn es taut. Es sind schwere, satte Tropfen, die hinunter fallen vom Dach und den Bäumen, hinunter in den Schnee. Plopp, plopp. Manchmal trifft ein Tropfen schon einen Flecken mit Laub. Das hört sich dann härter an, spitzer. Plick, plick macht es. Die Käuzchen rufen in der Nacht, es klingt genauso wie in schlechten Gruselfilmen.

Das schönste Geschenk macht uns der Wald am nächsten Morgen. Es wird schon früher hell, und hinter den Bäumen, irgendwo im Osten glüht der Himmel. Es ist ein dunkles Orange, davor das schwarze Muster aus Stämmen und Ästen. Das Glühen dauert nicht lange, wir hören einen Buchfinken singen, dann ziehen Wolken auf, und das Licht ist fort. Peter Kroll kommt uns holen, fragt: „gut geschlafen?“ Ja. Seine Wildschweinsalami hat uns den Abend gerettet, im Bauernschrank hatten wir eine halbe Flasche Jägermeister gefunden. Herz, was willst Du mehr. Wir verabschieden den Förster, verabschieden uns von seinem Wald. Die erste Straße, das erste Dorf – Medelon. Das Orketal liegt hinter uns. Und Hessen vor uns.

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