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  • Bergisches Drehorgelmuseum

Mensch und Maschinen

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

4. Februar 2015

Endlich sind wir Androiden begegnet. Ullrich Wimmer hat viele Automaten, die so tun, als wären sie Menschen. Der eine kann rauchen, der andere balanciert einen Stuhl auf der Nase. Das Herz von Ullrich Wimmer ist echt. Er ist Herr des Bergischen Drehorgelmuseums. 200 Instrumente und Apparate hat er in der ehemaligen Kirche aufgestellt. Er zieht Standuhren und Spieldosen auf, wirft Euro-Münzen in Zwitscherautomaten – und lässt die Kirmesorgel einen Csárdás donnern. Zwischendurch sinniert er darüber, ob der Mensch als Schöpfer taugt – oder sich damit mal wieder übernimmt.

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Drehorgelmuseum
Ullrich Wimmer dreht die Kurbel, und es ertönt eine Kirchenorgel. „Das ist nicht einfach ein Leierkasten, das ist ein unglaubliches Instrument“, hat er gesagt. „Franz Hartung Orgelbauer Halle a/S“ steht auf dem dunkelbraunen Gehäuse, das so groß ist wie ein Kinderwagen, verziert mit goldenen Blumenmustern und Landschaftsbildern.

Der Raum ist Klang. Die Orgel spielt einen Choral von Johann Georg Ebeling: „Du meine Seele singe“. Den Text schrieb 1653 Ebelings Zeitgenosse und Freund Paul Gerhardt. Ich bin verdutzt. Die klaren, berührenden Töne kommt tatsächlich aus dem Kasten von Franz Hartung. Ullrich Wimmer schaut feierlich drein, während er dreht. Ich verstehe, was er mit ‚unglaubliches Instrument‘ meint.

Ulrich Wimmer im Konferenzraum des Bergischen Drehorgelmuseums
Das Leben ist ein Geräusch. Mit Ullrich Wimmer kann man nicht sprechen, ohne dass irgendwo eine Uhr schlägt, eine Melodie erklingt oder ein Schwarzwälder Kuckuck ruft. Der Mann sammelt Geräusche wie Briefmarken. Als Student in Bonn geht er 1971 zu einem Konzert: „Max Reger spielt Max Reger“. Er wundert sich, denn Max Reger ist seit 1916 tot. An jenem Abend erlebt Ullrich Wimmer sein erstes, selbstspielendes Klavier. Danach will er auch so eins haben und sammelt mechanische Musikinstrumente.

Ullrich Wimmer über die Einmaligkeit von Musik

Wir treffen Ullrich Wimmer am Schwimmbad in Wipperfürth und laufen mit ihm und seinem Freund Herrn Küpper (und den Hunden Agatha und Bella) durch die Nachmittagssonne über die Hügel des Oberbergischen nach Kempershöhe. Das ist ein Ortsteil von Marienheide, ein kleiner Flecken mit 20 Häusern. Dort liegt das Bergische Drehorgelmuseum.

„Ich wollte immer mit meinen Instrumenten leben“, sagt Ullrich Wimmer. „Und meine Frau hat irgendwann diese Kirche entdeckt.“ Zu dem Zeitpunkt lebt er noch in Düsseldorf und organisiert die Seelsorge für die Evangelische Kirche im Rheinland: Seelsorge bei der Polizei. Im Gefängnis. Im Krankenhaus. Auf das erste Automatenklavier folgt die erste Drehorgel („Der Mensch braucht ja Publikum, wenn er extrovertiert ist“), es folgen Spieluhren und Karussell- und Kirmesorgeln.

Choral: Johann Georg Ebeling, „Du, meine Seele, singe“

Eine der furchteinflößenden Jahrmarktorgeln steht hinten in der Kirche. „Modell 107“, Jahrgang 1926, gebaut von „Gebrüder Bruder“ aus Waldkirch bei Freiburg. „Die stand bis vor ein paar Jahren in einem Rössli-Spiel“, erzählt Ullrich Wimmer. Er meint ein Pferdekarussell. Modell 107 ist deutlich größer als die Trompetenorgel von Franz Hartung. Sie geht als ordentlicher Wandschrank durch und hat eine Fassade mit Jugendstilornamenten in gold und grün. Die Orgel spielt Ouvertüren genauso gern wie Schlager, aber jetzt gerade ist der „Csárdás“ von Vittorio Monti eingelegt. „In diesem Stück, da klagt die Orgel und zeigt Seele“, sagt Ullrich Wimmer. „Sie beweist, dass eine Kirmesorgel nicht nur eine Krachmaschine ist.“
Ich trete ein paar Meter zurück, und dann kesselt sie los, diese vollrestaurierte Musikmaschine. Die Kirche bebt. Modell 107 ersetzt 18 Musiker, Trommeln inbegriffen. Ich will die Rückseite der Orgel sehen. Hinter der Fassade erblicke ich als erstes eine Holzwalze, auf der das Lied läuft: Sie dreht sich und frisst die gelochten Spielbögen am laufenden Meter.

Alles ist in Bewegung. Es rattert, kracht und orgelt ohne Unterlass. Ein Blasebalg hebt und senkt sich, ein Schwungrad dreht sich. Kleine Klöppel schlagen auf eine Marschtrommel ein, der große Paukenschlegel haut auf die Basstrommel. Das Ganze erinnert an eine Dampfmaschine, und fast hört man ihn rufen, den Kirmes-Ansager: „Kommen Sie, meine Damen und Herren, kommen und staunen Sie!“ Werbung machen, auffallen: Das kann die Orgel gut. „Und ich habe sie schon stark gedämpft“, meint Ullrich Wimmer. Der Csárdás geht ins Finale, es dauert ein paar Sekunden, bis der Schlussakkord verhallt.

Ganz anders klingt die Spieldose vorne links im Regal, in einem Kästchen mit Intarsien im Deckel. Am besten passt wohl das Wort Kleinod. Was die Kirmesorgel an Volumen hat, hat dieses Instrument an Feinsinn. Die Walzenspieldose stammt aus dem Genfer Hause „Nicole Frères“, anno 1860. Ein schottischer Adeliger hat sie bestellt, und darum kann sie nur schottische Melodien.

Model 107

Ullrich Wimmer dreht an einer goldenen Schraube, die Walze beginnt sich zu drehen, und die 125 Zungen des Metallkamms schnappen streng choreograophiert hoch und wieder herunter. Es sind kleine Wellenbewegungen, hin und her tanzen die Zungen, und wir hören „Auld Lang Syne“, ‚Nehmt Abschied Brüder‘. Der Sound ist überraschend dreidimensional, für eine Spieluhr sind die tiefen Töne ganz schön voluminös.

Draußen vor der Kirche zeigt das Thermometer minus zwei Grad, und über Kempershöhe wölbt sich ein Sternenhimmel, der den Großstädter seufzen lässt. Drinnen gibt es Bergische Kartoffelsuppe mit zwei Sorten Wurst. Das hat Ullrich Wimmers Partnerin Doris van Rhee gekocht, obwohl sie keine Kartoffelsuppe mag. Die gibt es nur, wenn Gäste kommen. Wir trinken Bier und tasten uns im Gespräch zu den künstlichen Lebewesen vor.

Sie sind die Vorstufe zum Androiden, zum nachgebauten Menschen. Der Vogelkäfig zum Beispiel, der einst in einem Pariser Café stand. „Ich habe ihn von Franc auf Euro umgestellt“, sagt Ullrich Wimmer. Die Technik ist simpel: Ein Balg saugt Luft an und pumpt sie in kleine Kolbenpfeifchen. Über eine Noppenscheibe werden die Kolben und die Bewegungen der Vögel geregelt. Bontems heißt die Firma, die seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Vogelfanggeräte herstellte – kleine Holzkästen mit Vogelstimmen. Später baute die Firma dann auch Käfige mit falschen Vögeln, „um wohlhabende Damen zu erheitern“, sagt Ullrich Wimmer.

Dann reden wir über Androiden. Frankenstein, Pinocchio, alles Verwandte. Es wird ein bisschen philosphisch, denn es geht um den alten Traum des Menschen, den Menschen nachzubauen. Ullrich Wimmer erwähnt den Pygmalion-Mythos: Der Künstler erschafft eine weibliche Figur, und die Götter erwecken sie zum Leben. Im 18. Jahrhundert, lernen wir, schrieb der französische Arzt Julien Offray de La Mettrie ein damals wegweisendes Buch: „L’homme machine“. Seine streng materialistische These: Der Mensch ist eine Maschine.

Ein Zeitgenosse von La Mettrie war da schon mit dem Nachbau beschäftigt. Jacques de Vaucanson konstruierte Automaten. Einen Flötenspieler zum Beispiel. Und eine mechanische Ente, die Körner fressen, verdauen und Kot ausscheiden konnte. Wir sprechen über Natürlichkeit und Künstlichkeit, über schöpferische Allmachtsphantasien und biblische Sünden – „denn es geht ja auch um Sünde“, sagt Ullrich Wimmer und zitiert die Schlange aus dem ersten Buch Mose, Kapitel drei: „Ihr werdet sein wie Gott“.
Wir wollen jetzt Androiden sehen und gehen hinüber in die Kirche. Das geht schnell, denn das Esszimmer grenzt direkt an das Kirchenschiff. Da stehen sie auf einem der Regale: eine zierliche Klavierspielerin aus dem Hause Jaquet-Droz, die Hände abgeschlagen und darum verstummt. Ein Orientale, der Wasserpfeife raucht, und den Rauch ausbläst und mit der anderen Hand wegwedelt. Und ein Clown. Er bewegt sich, einmal in Gang gesetzt, in Zeitlupe und verfolgt mit den Augen den roten Ball mitsamt dem Stuhl, den er auf der Nase balanciert. Ein verträumter Androide ist das, einer, der sich Zeit für das Menschsein nimmt.

Wir reden noch ein paar Stunden weiter und hören Geräusche, dann ist Schlafenszeit. Und wir schlafen nicht irgendwo: Wir schlafen auf der Empore der alten Dorfkirche, unter uns die Leierkästen, Aufziehvögel, Spieldosen, Automaten und die 100-jährige Karussellorgel, die nun schweigt. Nachts im Museum: Ich lege meinen Schlafsack direkt an die hölzerne Brüstung. Auf dem Stuhl rechts von mir sitzen ein paar ganz normale Puppen und fixieren mich. Ich schüttle den Kopf, muss lächeln und lausche noch lange der tickenden Stille.

Eine Spieldose

3 Kommentare

  1. Christine u. Gunter Franke 15. Februar 2015 um 19:15 Uhr

    Mit großer Freude und Vergnügen haben wir Ihren Bericht gesehen und gehört. Wir sind stolz auf unseren langjährigen Freund Ulli Wimmer. Wir hoffen, daß er noch vielen seine tolle Sammlung vorführen kann um damit Freude zu breiten .

  2. Werner Baus 23. April 2015 um 21:29 Uhr

    Lieber Ulli !
    Durch Zufall bin ich auf Deine Internetpraesentation gestossen. Es ist einfach toll und wunderbar.
    Als Rentner im Unruhestand und ebefalls Sammler mechanischer Musikinstrumente sowie Orchestrionrestaurator
    weiss ich, wieviel Liebe, Muehe und auch Arbeit dahintersteckt um eine solch beachtliche Sammlung zusammenzutragen, zu hegen und zu pflegen.
    Mach weiter so !!!!!!!!!!!!!!!!!
    Gruss
    Werner Baus
    Musik-Radio-u.Kinomuseum
    34298 Helsa-Eschenstruth
    05602-918833

  3. Sehr geehrter Herr Dr. Wimmer,
    die Mitglieder des Vespaclub Bergisch Gladbach bedanken sich sehr herzlich bei Ihnen für den informativen Vortrag. Er führte uns in eine ganz andere Welt, die uns so noch nicht bekannt war! Wir hätten Ihnen noch stundenlang zuhören können!
    Weiterhin viel Sammlererfolg und
    Vespa Roll
    Der Vespaclub Bergisch Gladbach

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