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Mission: Görlitz

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

3. November 2015

Die Bahnhofsmission in Görlitz ist die erste, die nach der Wende in Ostdeutschland wieder öffnete. Bahnhofsmission und DDR: Das vertrug sich nicht. Das SED-Regime verbot sie früh, denn sonst hätte man einräumen müssen, dass es Armut gibt im Sozialismus. Und Obdachlosigkeit. Heute gibt es in dem kleinen Haus hinter dem Hauptbahnhof ziemlich guten Kaffee und mit etwas Glück eine Bockwurst. Wir treffen Renate Tietz, die Teamleiterin, und Anika Dürrbeck, die Leiterin der Görlitzer Stadtmission, die neben der Bahnhofsmission auch die Suppenküche, den Teekeller und die Kleiderkammer betreibt. Auf einer Fahrt mit dem Suppenküchen-Mobil erleben wir an zentralen Plätzen der Stadt die Kehrseite des Sozialstaates: Menschen in Krisen, Menschen in Armut, Menschen, die Hilfe brauchen – und sie annehmen.

Etappe:

Es ist immer der erste Schritt. Der über die Schwelle. Der ist schwer, der ist das Eingeständnis. Darum steht die Tür immer offen. Es ist dann leichter, reinzugehen. Und es ist auch gar nicht schlimm, denn drinnen steht Renate Tietz. Sie muss schnell schalten. Was braucht der Mann, der vor mir steht? Will die Frau, die reinkommt, überhaupt etwas sagen? Oder gehen wir zusammen vor die Tür und rauchen erstmal eine Zigarette?

Renate Tietz über Zuwendung

Renate Tietz nimmt Menschen in den Arm. Sie kann das gut, es wirkt weder aufgesetzt noch übergriffig. Sie tut das auch nur, wenn sie merkt, dass es passt. Es ist kurz nach acht Uhr früh in Görlitz, der Atem macht Wölkchen. Die Sonne ist eine Herbstsonne und braucht eine Weile, bis sie wärmt. Die Bahnhofsmission liegt hinter dem Bahnhof. Die Fußgängerrampe links hinauf, dann noch ein paar Meter, auf der linken Seite.

Die Mission ist ein ehemaliger Kiosk, klein und rechteckig. Die Längsseite zeigt zur Sattigstraße. Die Fassade ist hellbraun und aus Spritzputz. Vor der Tür stehen zwei grüne Bänke und ein Sonnenschirmständer. Zumindest halte ich ihn dafür. Dann sehe ich, dass der Ständer als Aschenbecher dient. Wer raucht, wirft die Kippe oben in das Metallrohr. Ich frage mich, wie viele Zigarettenstummel da hineinpassen.

In der Mission ist es warm, es gibt eine Fußbodenheizung. Die Deutsche Bahn bezahlt das, so wie auch Wasser und Strom. Über der Tür hängen riesige Schecks mit Spendengeldern: 500 Euro. 1.500 Euro. Auf dem Tisch hinten links liegen halbe, geschnittene Graubrote, verpackt in Plastiktüten. Grundnahrungsmittel zum Mitnehmen. An der Wand steht das Motto der Mission: „Ein Stück Himmel am Bahnhof.“ Das Stück Himmel ist für mich gerade ein heißer Kaffee. Ich gehe mit Renate Tietz wieder hinaus. Wir setzen uns auf die Bank.

Renate Tietz ist in Bautzen geboren. Die Mutter war Hausfrau, der Vater selbständiger Böttcher, der später im Maschinenwerk arbeitet. „Ich bin ein Arbeiterkind, das studieren durfte“, sagt Renate Tietz. Sie hat am SIFL studiert, dem Sorbischen Institut für Lehrerbildung in Bautzen. Sie wurde Erzieherin und arbeitete mit mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen. Das Leben lief. Sie lernte ihren Mann kennen und zog zu ihm nach Görlitz. Die Familie wurde groß, sie bekamen fünf Kinder. Als die Ehe zerbrach, blieb Renate Tietz in Görlitz. „Die Liebe zur Stadt hat gehalten“, sagt sie.

Dann kam der Absturz. „Das ist eine persönliche Frage, die ich gern beantworten möchte“, sagt Renate Tietz. Sie braucht nicht zu überlegen, sie holt nicht tief Luft. Sie will das erzählen. Dieses Kapitel ihres Lebens begann erfolgreich, mit einer Stelle im DRK-Altenheim. Sie wurde dort Gesamtbetriebsratsvorsitzende. Es ging alles gut – bis zur Trennung von ihrem Mann. Sie stürzte sich in die Arbeit, ging um sechs Uhr früh aus dem Haus, kam abends nach 19 Uhr wieder heim.

Renate Tietz begann zu trinken. Es blieb nicht bei dem einen Glas Rotwein. „Natürlich habe ich meine Kräfte überschätzt“, sagt sie. Sie wurde Alkoholikerin. „Ich bin langsam abgedriftet“, erzählt sie. Es war schwer, sich das einzugestehen: Dass sie, die resolute Frau, Hilfe brauchte. „Ich hatte die Wahl, entweder zu sterben oder weiterzuleben“ sagt sie heute. „Diese Negativerfahrung hilft mir bei meiner Arbeit in der Mission.“

Renate Tietz ging nach Bayern zum Entzug. Sie packte es und ist bis heute trocken. Zwölf Jahre schon. In Bayern kam irgendwann das Heimweh. „Zuhause kann man überall sein“, sagt sie, „aber daheim ist daheim.“ Sie weiß das noch auf den Tag genau: Am 22. Dezember 2008 kehrte sie zurück nach Görlitz. Als sie die Landeskrone – den Görlitzer Hausberg – wiedersah, schossen ihr die Tränen in die Augen. Seit Herbst 2011 ist sie jetzt Teamleiterin in der Bahnhofsmission. Sie ist angekommen.

Es ist halb zehn, die Sonne wird wärmer. Während ich mich mit Renate Tietz unterhalte, geht Dirk mit den Helfern der Mission in den Bahnhof, auf die Bahnsteige.

Mission heißt nicht nur Häuschen, Kaffee, Anlaufstellle. Es heißt auch, Menschen beim Aussteigen zu helfen. Koffer zu tragen. Ein Auge darauf zu haben, wie es den Menschen im Bahnhof so geht. Im Zweifelsfall den Rettungsdienst oder die Bundespolizei zu rufen. „Mit denen kommen wir sehr gut klar“, sagt Renate Tietz.

Inzwischen sind die ersten Gäste in die Mission gekommen. Ich setze mich an einen der Tische und komme mit einem Paar ins Gespräch. Ronny und Karin sind freundlich und erzählen gern. Es ist eine schöne Geschichte. Eines Tages saßen beide im Teekeller der Stadtmission, am Rande der Altstadt. Es war voll, sie spielten „Mensch ärgere Dich nicht“, und Ronny bemerkte Karin. „Die war ein Nervenbündel“, sagt er und meint es liebevoll. Danach sahen sie sich ein Jahr lang nicht und fanden sich am Ende doch noch.

Bis heute gehen sie in den Teekeller und in die Bahnhofsmission. Inzwischen wohnen sie auch zusammen. „Und ich bin jetzt Opa Ronny“, sagt Ronny, „denn Karin hat drei erwachsene Kinder“. Opa Ronny bekommt vom Staat eine Opferrente – er saß in der DDR ein dreiviertel Jahr im Gefängnis, weil er zur Polizei sagte, sie seien Faschisten und das System eine Diktatur. Zum Strafvollzug musste er damals nach Zeithain ins Rohrwerk, etwas östlich von Riesa. 1985 reiste er in die BRD aus. Heute ist er rehabilitiert.

Karin und Ronny leben auf knapp 60 Quadratmetern in der Innenstadt: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad. „Wir stolpern fast in die Berliner Straße“, sagen sie. Die Berliner Straße: Die Hauptachse vom Bahnhof in die City, eine Geschäftsstraße, aber auch Leerstand. Für das „Amt“, wie Ronny und Karin es nennen, ist die Wohnung in Ordnung: Der Staat spart, denn die beiden brauchen nicht mehr zwei Wohnungen.

Es ist Zeit für Bockwurst mit Senf. Marion Klette bringt jedem hier die Wurst an den Tisch. Und ich bin überrascht. Die Wurst ist richtig lecker, und es gibt frische Brötchen. Das war dann wohl mein Vorurteil, dass es in der Bahnhofsmission nur Altbackenes gibt. Diese Bockwurst, morgens um 9.45 Uhr, ist ein Ritual, auch wenn es sie nicht jeden Tag gibt. Ich verstehe langsam, warum die Menschen herkommen.

Renate Tietz über Alter, Kinder und Spender

Es gibt keine Erwartungen. Es gibt nur diesen Ort und das Team. Die Mission ist Insel, Zuflucht, Schutz, ich suche nach dem Wort. Nach einem, das nicht rührselig klingt, denn das ist dieser Ort nicht. Er ist schlicht, gemütlich, und er bedeutet Arbeit, für beide Seiten. Engagement für die einen, Überwindung für die anderen. Und Gemeinschaft für alle. Es gibt auch Zoff, es wird auch laut. Aber selten so laut, dass Renate Tietz jemanden rausschickt. Dass sie das kann, glaube ich ihr.

Ich frage sie, wer in die Mission kommt. „Wir haben Menschen von 18 bis weit über 70. In den Ferien kommen auch Kinder. Sie fragen immer: Gibt es wieder Pfannkuchen?“ Sie meint die Berliner, gespendet von Bäcker Raschke. Kommen auch Menschen aus Polen herüber? „Ja“, sagt sie, „und da waren unsere deutschen Gäste am Anfang ganz schön sauer. Aber wir sind auch für die Polen da.“
Wir sind jetzt am Fundament ihrer Arbeit. „Die Leute können kommen, wie sie sind“, sagt Renate Tietz. „Selbst wenn sie stinken, wonach auch immer.“ Sie bringt ihre Religion, ihren Glauben ins Spiel. „Unsere Jahreslosung ist: Nehmt einander an, wie Gott euch angenommen hat.“ Renate Tietz hat ihren Glauben in Bayern gefunden, auch wenn sie vorher schon evangelisch und konfirmiert war. „In Bayern bin ich Christin geworden, bekennende Christin“, sagt sie.

Das Gleiche kann man von Anika Dürrbeck sagen. Noch so eine Frau, der es gelingt, zugleich liebenswert und tough zu sein. Anika Dürrbeck ist streng genommen die Chefin von Renate Tietz, aber die beiden wohnen sowieso im gleichen Haus – in der Stadtmission, einem Renaissancebau mit rot-weiß gestrichener Fassade etwas unterhalb der Kirche Peter und Paul. Hierarchien spürt man hier keine.
Anika Dürrbeck leitet die Stadtmission, zu der auch die Bahnhofsmission gehört. Zum Interview gehen wir in den Teekeller unter dem Gebäude. In dem gemütlichen Gewölbe stehen: Ein Sofa, ein Tisch, eine Theke und ein alter Fahrkarten-Entwerter, der heute als Spendenbox dient. Außerdem eine nostalgische Stehlampe mit gerafftem Lampenschirm.

Anika Dürrbeck nennt uns Zahlen: Die Suppenküche verteilt 4.000 Mahlzeiten im Jahr. Pro Abend kommen um die 25 Personen in den Teekeller. Über das Jahr kommen bis zu 10.000 Personen in die Bahnhofsmission, und noch mehr Menschen erhalten Hilfe an den Bahnsteigen und im Bahnhof. Anika Dürrbeck spricht von ihren „Helden“, und sie meint nicht das Team. Sie meint die Obdachlosen, die Bedürftigen. Sie benutzt das Wort „Helden“ konsequent. Es ist ihre Art, die Menschen zu würdigen.

Was ist mit Flüchtlingen? „Ja, die kommen auch“, sagt Anika Dürrbeck. „Zum Beispiel in die Kleiderkammer.“ Sie ist vor kurzem von der Stadtverwaltung gefragt worden, ob sie ein besonderes Angebot für Flüchtlinge plane. „Ich habe geantwortet, dass wir nicht die Kapazitäten haben, etwas Neues zu beginnen. Und dass unsere Arbeitsbereiche sowieso schon offen für jeden sind.“

Für Anika Dürrbeck gibt es wegen der Flüchtlinge trotzdem eine neue Aufgabe. „Wir müssen mit unseren Helden diskutieren und Toleranz einüben“, sagt sie. Denn ähnlich wie mit den Polen von jenseits der Neiße gibt es auch Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen. „Das ist ein ganz sensibles Thema“, sagt Anika Dürrbeck. „Unsere Helden haben Angst, dass ihnen wegen der Flüchtlinge die letzte Chance verloren geht, wieder eine Stelle zu finden.“ Das Ergebnis ist eine Mischung aus Unsicherheit, Skepsis und mitunter sogar Feindseligkeit. „Da ist noch einiges zu tun“, sagt sie.

Anika Dürrbeck ist keine Görlitzerin. Sie kommt aus Nürnberg, ist von Beruf Erzieherin und hat am Johanneum in Wuppertal eine theologische Ausbildung drangehängt. Dann ging sie nach Görlitz und leitet bis heute die Stadtmission.

Sie hält auch Gottesdienste, und sie fährt jeden Mittwochabend mit dem Suppenkessel durch die Stadt. Wir fahren mit – genauso wie Ronald Kopsch, der heute seinen BMW zur Verfügung stellt. Die Suppe schwappt ein bisschen über, weil der Topf nicht so hundertprozentig schließt. Es ist kochend heiße, würzige Karottensuppe mit Fleisch. Sehr lecker. Und kostenlos.

Wir fahren zur Bahnhofsmission und reichen Schüsseln durchs Fenster nach drinnen. Es sind viele Menschen hier, es gehen sicher 20 Portionen raus. Danach geht es weiter zum Lutherplatz, dann zum Marienplatz und zum Theaterplatz. Anika Dürrbeck und Ronald Kopsch begrüßen jeden mit Handschlag und erkundigen sich, wie es geht. Sie werden von den meisten ebenso herzlich zurück gegrüßt. Ich mache es ihnen nach, ich spüre kein Misstrauen, aber es fällt mir trotzdem schwer, ein Gespräch anzufangen. Anika und Ronald haben es leichter: Sie kennen fast alle hier.

Am Ende sind wir in Königshufen im Obdachlosenheim. Das ist immer die letzte Station, und hier setzen wir uns mit an den Tisch und essen selbst einen Teller Suppe. Ein älterer Herr mit einem wunderbaren grauweißen Rauschebart erzählt davon, wie er zu Fuß von Görlitz nach Santiago de Compostela gelaufen ist, und danach von Görlitz nach Rom. Er zeigt seine Schuhe: Diese Sohlen sehen vertrauenerweckend aus. Und ich kann ein wenig mitreden, das Wandern verbindet uns für einen Moment.

Anika Dürrbeck über Helden

Anika Dürrbeck sorgt sich um jeden: Sie weiß, warum der andere aus dem Heim geflogen ist und nun wieder irgendwo in der Stadt übernachtet. Sie weiß von den Suizidgedanken des anderen, und sie bringt ihre Sorge zum Ausdruck. „Du, ich habe Angst um Dich“, sagt sie zu dem Mann, ganz direkt. Sie trifft den Ton, und vielleicht spüren das die Männer, denn hier im Heim leben fast nur Männer.

Anika Dürrbeck zitiert Hüsch

Ich habe viele Gedanken im Kopf, als wir zurückfahren zur Stadtmission. Ich weiß nicht, ob ich geeignet wäre für das Suppenküchen-Mobil: Man muss das aushalten, die Konfrontation mit Armut, Alkoholismus und Ausgegrenztsein. Man muss die Menschen zu nehmen wissen. Anika Dürrbeck und Ronald Kopsch tun das. Und es erfüllt sie. Davor habe ich Respekt.

Es sind viele Eindrücke in Görlitz. Der morgendliche Kaffee bei Renate Tietz, die abendliche Suppe in der Stadt. Ich muss nach unserem Besuch in der Stadt noch öfter an ein Gedicht von Hanns-Dieter Hüsch denken, das Anika Dürrbeck im Teekeller zitiert hatte. Es heißt „Bedenkt“ – und Anika sagte uns daraus diese Zeilen: „Bedenkt, dass mancher sich betrinkt, weil ihm das Leben nicht gelingt, dass mancher lacht, weil er nicht weinen kann. Dem einen sieht man’s an, dem andern nicht. Bedenkt, wie schnell man oft ein Urteil spricht.“

Informationen:

Bahnhofsmission Görlitz
Sattigstr. / am Südausgang des Görlitzer Bahnhofs
Telefon: 03581 / 40 28 70

Im Bahnhofsmissionsgebäude
Montag – Donnerstag     8.00 – 18.00 Uhr
Freitag – Samstag             8.00 – 12.30 Uhr

Auf den Bahnsteigen
Montag – Donnerstag        8.00 – 18.00 Uhr
Freitag – Samstag                8.00 – 12.30 Uhr

Im Gebäude der Stadtmission
Langenstr. 43
Telefon: 03581 / 87 66 66

Teekeller
Dienstag & Freitag        16.00 – 21.00 Uhr

Kleiderkammer
Montag – Freitag          11.00 – 14.00 Uhr

Kinder- und Jugendclub
Samstag                         14.00 – 17.00 Uhr

Suppenküche
Montag – Freitag         11.00 – 14.00 Uhr

Suppenküchen-Mobil
Mittwoch                        17.30 – 21.00 Uhr (unterwegs an verschiedenen Plätzen in Görlitz)

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