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Warnamt-Wunderland

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

20. Februar 2015

In Meinerzhagen holt uns der Kalte Krieg ein. Der alte Atombunker „Warnamt IV“ reicht vier Stockwerke hinab in die Erde. Drinnen stehen alle Uhren auf 20.56 Uhr. Das andere Wahrzeichen der Stadt ragt mehr als 30 Meter hoch in den Himmel. Dort oben verstehen wir, warum Meinerzhagen gern „Balkon zum Sauerland“ werden möchte. Sprungschanze ins Sauerland würde noch besser passen. Der Bürgermeister heißt Jan Nesselrath, ist 42 Jahre alt – und wir schlafen vor seinem Haus. Aber nicht draußen.

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Meinerzhagen
Die Nacht ist sternenklar und winterkalt. Auf dem Hof von Hahnenbecke 4a steht ein mittelalter Wohnwagen. Braune Holzschränke, weiße Vorhänge, funktionale Gemütlichkeit. Dazu ein Exemplar von „Unsere Jagd“, auf dem Cover zwei Hirsche. Jan Nesselrath hatte keine Wahl. Eher im Scherz meinte er so etwas wie: „Die Wanderer können bei mir im Wohnwagen schlafen.“ Seine Mitarbeiterin Martina Grella nahm ihm beim Wort und sagte uns zu. Also holte der Bürgermeister den Wohnwagen aus dem Winterlager und stellte ihn vor sein Haus. Bislang unsere kuscheligste Unterkunft.

Um sieben Uhr morgens sind wir auf den Beinen. Die Felder sind überzogen mit Raureif, das Gras knistert unter den Sohlen. Jan Nesselrath dreht gleich die erste Runde mit Lotte.  Lotte ist ein Rottweiler, kinderlieb und schreckhaft. Wir gehen mit. Wie wird man Bürgermeister einer Stadt mit 21.000 Einwohnern? „Ich bin CDUler“, sagt Jan Nesselrath. „Und bei der Kommunalwahl hat die SPD mich unterstützt. Im Mai 2014 bin ich mit knapp 56 Prozent gewählt worden.“

Der Bürgermeister ist Strafverteidiger. Jan Nesselrath hat früher als Anwalt gearbeitet: Taschendiebstahl, Banküberfall – am Oberlandesgericht braucht er Verhandlungsgeschick und Menschenkenntnis. In Meinerzhagen auch. Der Bürgermeister ist Bindeglied zwischen Rat und Verwaltung. Läuft glatt? „Man muss beide Seiten zufriedenstellen.“ Diplomatische Antwort. Das kann er gut.

Der Atem steht weiß in der Morgenluft, wir sind im Sauerland. Die Gegend ist hügelig, und viele der Hügel sind grün vom Fichtenwald: Das ist das Ebbegebirge mit seinen Talsperren. Jan Nesselrath lebt gern hier. Er ist verheiratet mit der Lehrerin Stefanie Nesselrath und Vater von Carla (7), Lina (5) und Mila (3). Die drei Mädchen haben im ersten Stock des Hauses eine Sammlung von Ponys in allen Größen und Farben. Jan und Stefanie sind offene, freundliche Menschen. Wir reden viel, und es ist kein Small-Talk. Jans Eltern wohnen nebenan und haben nicht nur im Wahlkampf auf die Kinder aufgepasst.

Meinerzhagen ist Mittelmaß, guter Durchschnitt. Eine grundsolide Kleinstadt mit klammen Finanzen und einer behaglichen Unbeweglichkeit. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Leute hier teilweise im Dornröschenschlaf sind und zu wenig rausgehen“, sagt Jan Nesselrath. „Wir müssen mehr Veranstaltungen machen. Ich wünsche mir, dass sich die Vereine und Bürger noch mehr engagieren. Da kann man viele Wege gehen, um das Leben noch positiver zu gestalten.“

So klingt Lokalpolitik. Und da fällt in Meinerzhagen schnell ein sehr deutsches Wort: „Stadthallenumfeld“. Hinter dem Begriff verbergen sich jahrelanger Stress und ein schlapper Bürgerentscheid: Am Ende stimmte eine ganz knappe Mehrheit für den Umbau des Platzes, aber das Quorum war zu klein. Es hatten nicht einmal 20 Prozent der Stimmberechtigten mitgemacht. Stirnrunzeln. Warum nutzen nur so wenige Leute die Chance, über ihr Stadtzentrum mitzubestimmen? Umgebaut wird trotzdem.

Jan Nesselrath ist erst seit kurzem im Amt. Er ist nicht der Typ für verbrannte Erde. Er würde gern eingefahrene Strukturen auflockern. Er hat wenig Grenzen im Kopf, will beweglich bleiben in Kopf und Herz. Das ist nicht leicht in einer Stadt, die zwischen zwei Epochen feststeckt: Der alte Glanz als Ausflugsziel mit Eisenbahn- und Busladungen an Touristen und Schülern ist dahin. Der neue Glanz ist noch in Arbeit.
Einen verlässlichen Arbeitgeber hat die Stadt: Otto Fuchs, metallverarbeitende Industrie, 8.600 Mitarbeiter weltweit. Tuning-Fans müssen nicht aufgeklärt werden: In Meinerzhagen wird die berühmte „Fuchs-Felge“ hergestellt, „geschmiedet, nicht gegossen“, heißt es auf der Internetseite. Porschefahrer wissen das. Jan Nesselrath fährt einen Mercedes E als Dienstwagen. Und einen VW-Bus mit der Familie.

Wir fahren mit dem Mercedes E ins Rathaus und frühstücken. Martina Grella hat für belegte Brötchen besorgt. Schinken, Fleischwurst, Leberwurst, dazwischen klasse Mettwürstchen vom Schlachter um die Ecke: eine Freude für uns Nicht-Vegetarier. Danach haben wir Pause und Herr Nesselrath einen Antrittsbesuch. Der SPD-Landtagsabgeordnete Gordan Dudas kommt zum Vier-Augen-Gespräch. Zwei Stunden für alle Themen. Infrastruktur, Flüchtlinge, Kommunalfinanzen, später nachzulesen auf Dudas‘ Homepage.

Dann zeigt uns Jan Nesselrath seine Stadt. Meinerzhagen hat zwei Wahrzeichen: eine Sprungschanze und einen Atombunker. Beide hatten ihre Sternstunden im Kalten Krieg. Auf der Sprungschanze fanden internationale Wettkämpfe statt, zeitweise war das die größte Mattenschanze in der BRD. Im Atombunker übten 180 Menschen den Ernstfall. Beim Super-GAU von Tschernobyl 1986 war der Bunker ein Wochenende lang abgeriegelt für die Außenwelt. Von innen.

Wahrzeichen Nummer eins. Die Schanze ist ein Aussichtsturm. 34 Meter hoch, neben der Abfahrtsspur aus Stahl führt eine Treppe hinauf. Metallgitterstufen. Nichts für Menschen mit Höhenangst, also nichts für mich. Wir gehen trotzdem hinauf. Es ist windig, alle paar Minuten zeigt sich die Sonne. Die Schanze ist eine Parabelkurve. Die Stufen sind anfangs nur ein paar Zentimeter hoch. Wir watscheln. Weiter oben erreichen die Stufen dann mehr als 20 Zentimeter. Wir klettern. Ich lasse das Geländer nicht mehr los.

Endlich da. Wir stehen auf grünem Teppich und keuchen. Jan Nesselrath war noch nie ganz oben. „Musste mich überwinden“, sagt er. Der Blick ist famos, man sieht noch mehr von der Stadt, noch mehr Hügel und noch mehr Seen. „Balkon zum Sauerland“ soll der Platz einmal heißen. Der Begriff klingt gut und taucht in Konzepten auf – nur gebraucht ihn eigentlich niemand. Das Marketing fehlt noch. Wir schlagen eine Kletterwand vor, unten am Gestänge. Die Kletterschanze von Meinerzhagen: Der Bürgermeister findet die Idee gut.

 

Jan Nesselrath über Meinerzhagen

Wahrzeichen Nummer zwei geht es schlecht. Streng genommen ist es gar kein Wahrzeichen, denn es ist ein Bunker, und den sieht man gar nicht. Der Bunker ist sehr einsam. Während oben auf der Schanze immerhin noch die Jugend trainiert und um die Wette springt, steht das alte Warnamt an der Heerstraße seit Jahren leer. Niemand bedauert das mehr als Hans-Martin Brinkmann. Ihm gehört der Bunker seit zehn Jahren.

Bundesweit gab es einst zehn solcher Warnämter. Das Personal war dazu da, „beim Atomschlag die Gefährdungslage festzustellen“ – erzählt Hans-Werner Brinkmann. „180 Leute“, sagt er. „Drei Schichten am Tag. 60 arbeiten, 60 schlafen, 60 haben frei“. In Meinerzhagen haben viele Bürger ihren Ersatzdienst hier gemacht: wer sich für zehn Jahre verpflichtete,  wurde im Gegenzug vom Wehrdienst freigestellt. Das galt noch bis zum Ende der Wehrpflicht 2011.

Eine Tür, ein unscheinbarer Kellerflur, Weinlaub rankt herunter. Nach ein paar Metern taucht rechts ein massives blaues Tor auf. Es sieht aus wie das Tor zu einem Bank-Safe: Dick und sicher. Dahinter ein kleiner Schleusenraum, am anderen Ende dann das gleiche Portal nochmal, diesmal in Gelb. „Schauen Sie sich die Wände an“, sagt Hans-Werner Brinkmann, „die sind vier Meter dick“.

Wir sind im Kalten Krieg, es sind konstant 11 Grad plus. Eine James-Bond-Kulisse unter Tage. Überall an den Wänden verlaufen Kabel, akkurat, parallel. Sieben, acht Stück nebeneinander, sie folgen uns durch die Räume, biegen mal nach oben ab, mal nach unten. Ebenso die Rohre. „Fortluft Entlüftung“ steht auf einem roten, „Warmwasserumlauf“ auf einem weißen. Deutsche Maßarbeit, Baukosten: 30 Millionen D-Mark für alles.

Für Schulklassen wäre das ein Abenteuer. Einen Bunker auszukundschaften, einen Ort zu erobern. Gleich hinter der Schleuse sind Duschkabinen in den Flur gebaut, durch die jeder hindurchmusste – zur Entseuchung, wenn die Strahlenbelastung zu hoch war. Dahinter zeigt uns Hans-Werner Brinkmann Schlafräume und Kommandoräume. Die alte Rohrpost-Anlage lässt sich noch einschalten. Sie klingt wie ein Staubsauger.

Weiter geht es, hinein und hinunter. Die Küche, die Kühlung, die Versorgungsräume, der Notstromgenerator. Ich probiere alle Schalter aus, die ich finden kann. Leider ist vieles kaputt, die meisten Geräte funktionieren nicht mehr, und welches der vielen Kabel wohin führt, das weiß niemand mehr genau. Schrecksekunde: Als ich einen Hebel am alten Hauptschaltkasten versuchsweise nach unten umlege, wird es auf einen Schlag stockdunkel im ganzen Bunker. „Schillmöller, Finger weg“, ruft Dirk von irgendwo her – mit Echo. Wir lachen laut.
An den Wänden sind noch die Original-Malereien aus den Sechzigern. Geometrische Zeichnungen auf sandfarbenem Beton. Dreiecke und Kreise in blau, gelb, grün und rot. Die Farben leuchten nach mehr als einem halben Jahrhundert wie neu. Das ist ein Stück Kunst – und schon sind wir bei Hans-Werner Brinkmanns Herzenswunsch.

Er würde aus dem Bunker gern ein Museum machen. „Ich würde Künstler aus aller Welt einladen. Sie könnten dann die Räume und Wände gestalten, zum Thema Kalter Krieg zum Beispiel. Das könnte ein Highlight für Deutschland werden.“ Es gibt zwei Hürden: Sicherheit und Geld. Das Warnamt hat nur einen Ausgang, das heißt: Es dürfte nur eine bestimmte Zahl von Menschen zur gleichen Zeit hinein. Und es fehlen Sponsoren, ob öffentlich oder privat. Bürgermeister Jan Nesselrath hört zu und nickt „Das gehen wir an“, sagt er.

Dann haben wir alle Räume gesehen. Über eine Wendeltreppe aus Metall steigen wir hinauf, zurück durch die Betonflure und durch die Schleuse. Dann sind wir wieder in Meinerzhagen, draußen ist Januar, gleich wird es dunkel. Es ist halb fünf, und die dritte Etappe von „Ein Jahr Deutschland“ ist vorbei.

Jan Nesselrath bringt uns zurück zum Wohnwagen. Wir holen die Rucksäcke und trinken einen letzten Kaffee mit seiner Familie. Lotte, der schüchterne Rottweiler, tapst zwischen den drei Mädchen, die begeistert unsere mitgebrachten Nussecken aufessen. Dann fährt der Bürgermeister uns zum Bahnhof. Der Zug geht um 17.03 Uhr, die Direktverbindung nach Köln gibt es erst seit im Februar 2014 wieder. Die Regionalbahn fährt ab, es sind eineinhalb Stunden bis nach Hause.

Rohrpost aus dem Bunker:

Ein Kommentar

  1. Michael Hoeldke 25. Februar 2015 um 12:36 Uhr

    Diese „Warnamt-Seite ist die erste, die ich bei Euch besuche“. Luvvit!

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