Die Glockengasse
Autor: Joerg-Christian SchillmoellerFotos: Dirk Gebhardt
23. Oktober 2014
Deutschland wird weggebaggert. Sechs, sieben Schaufelradbagger in einem gigantischen Loch: Garzweiler II. Der dritte Tag ist eine Reise zum Mittelpunkt der Erde. Ein Fußmarsch durch die Geisterdörfer Immerath und Borschemich bleibt einem lange im Gedächtnis. Immer entlang an der Abbaukante, mit Geschichten von entweihten Kirchen, verrammelten Häusern, von „bergbaulicher Inanspruchnahme“ und Mondlandschaften. Der Weg führt übers freie Feld, und die Schuhe sind schwer von Erde am Ende eines solchen Tages: Das ist der fruchtbare Lössboden der Erkelenzer Börde, die langsam vom Tagebau Garzweiler umgepflügt wird.
Etappe:
#1Die Glockengasse liegt zwischen der Schöffenstraße und der Marienstiftstraße und ist 250 Meter lang. Sie besteht aus zwei Teilen: Die erste Hälfte liegt frei, das ist das Stück mit der Straßenlaterne. Außer dem Lehmhaufen und Unkraut ragen zwei Wasserpumpen aus dem Boden. Das ist alles.
Blätter, überall Blätter. Sie liegen dicht an dicht auf dem Boden, der Weg ist kaum breiter als einen Meter. Es ist ein grünbrauner Tunnel, umrankt von Efeu, rotem Weinlaub und Nadelbäumen. Ein Blick nach rechts durch die stachelige Hecke: ein riesiges Gewächshaus, 100 Meter lang, leer. Links ein Garten, verwahrlost, mit einem wuchtigen, runden Wasserbecken aus Beton. Das kleine Gatter steht offen.
Es sind intensive Momente in dieser Glockengasse. Wir können die Eindrücke nicht gleich in Worte fassen. Wir stehen auf diesem Geisterpfad und versuchen uns gegenseitig zu beschreiben, was wir sehen. Die Bäume, die Blätter, den Blick. Es ist ein unbekanntes Gefühl, in Deutschland durch zwei Dörfer zu wandern, die – bis auf wenige Familien – vollständig verlassen sind. Hier steht eine Menge Wohnraum leer.
Heute ist Sonntagmorgen, der 5. Oktober 2014. Es ist diesig, in Erkelenz hat es genieselt. Hier draußen, ganz nah am Tagebau, ist die Luft schwer und feucht. Es ist still in Borschemich und Immerath. Wenn ein Auto vorbeifährt, sitzen meistens Touristen drin. Einmal ein Geisterdorf sehen. Einmal ran an die Abbaukante, so nah es geht.
Wieder begleitet uns für ein paar Stunden jemand aus der Region: Günther Merkens vom „Heimatverein der Erkelenzer Lande“. Nach seinen Worten ist es nichts weniger als eine „Katastrophe, dass im 21. Jahrhundert Menschen umgesiedelt werden, Heimat und Kultur vernichtet werden, nur aus energiepolitischen Gründen“.
Günther Merkens über den Tagebau
Unumwunden räumt er ein: „Wenn Menschen aus ihrem angestammten Umfeld umgesiedelt werden müssen, ist das eine sehr sensible und sehr schwierige Frage für den Einzelnen und die Dorfgemeinschaft. Es ist unstrittig und selbstverständlich, dass RWE für Kosten aufkommt, die dabei entstehen. Jedem Umsiedler wird der Umzug an den neuen Umsiedlungsstandort ermöglicht.“
Aber manchmal hält der Tagebau auch inne. Im Frühjahr 2014 entschied die rot-grüne Landesregierung, Garzweiler II räumlich zu verkleinern. Damit müssen 1.400 Menschen nicht umsiedeln. Für das Dorf Holzweiler bei Immerath, und für die Siedlungen Dackweiler und Hauerhof bedeutet das: Sie bleiben stehen. In einer Leitentscheidung will die Landesregierung das im kommenden Jahr dann endgültig besiegeln.
Durch Zufall treffen wir auf Bauer Portz. Er ist einer der letzten Bewohner von Immerath und wohnt in der Pescher Straße. Heute gibt er kein Interview. „Nee“, sagt er. „Ich bin medienmüde“. Er hat mit so vielen Reportern gesprochen, dass er nicht mehr mag. Er muss sich oft die Frage angehört haben, wie sich das so anfühlt, einer der letzten Menschen in einem Geisterdorf zu sein. Was soll er sagen.
Mal laufen sie leer, mal liegt ein Schwung hellbrauner Erde drauf. Aber bewegen tun sie sich pausenlos. Im Tagebau gibt es keinen Stillstand, auch nicht nachts. Ein gleichbleibendes Dröhnen liegt über dem Tal. Es ist eine Parallelwelt in Brauntönen, mit diesen schwarzen Ungetümen. Ein faszinierendes Szenario. Und eine Form von Katastrophentourismus.
Wir entscheiden, nicht umzukehren und gehen am Tagebau entlang über freies Feld. Mit den Rucksäcken ist das anstrengend. Es geht über abgeernteten Mais mit langen Reihen aus verdorrten Strünken. Danach müssen wir über junge Wintersaat, dann über eine Wiese und schließlich sogar über frisch gepflügtes Ackerland (der Lössboden der Erkelenzer Börde gilt als besonders fruchtbar, und er bleibt großzügig an den Sohlen hängen).
Am Horizont taucht ein weißes Fahrzeug auf. Es sieht aus wie ein Geländewagen. Ist das RWE? Der Bergbauschutz? Aber wir sind ja außerhalb der Schranken. Der Wagen ist beharrlich. Er fährt auf einem Feldweg vor und zurück und bleibt zwischendurch immer wieder auf unserer Höhe stehen. So geht das mehrere Minuten lang. Erst als wir uns bis auf 150 Meter genähert haben, fährt der Wagen weg und bleibt auch weg. Seltsam. Kurz danach erreichen wir Borschemich und entdecken die Glockengasse. Oder das, was sie einmal war.
Endlich Jüchen. Der kleine Bahnhof liegt direkt an der Autobahn. Unsere Schuhe sind erdverkrustet. Es war eine abenteuerliche Tagesetappe, die uns ein Deutschland gezeigt hat, das es bald nicht mehr gibt. Bevor dort in der Zukunft, eine neue Landschaft entsteht. Aber das wird noch Jahre dauern. Denn die politische Entscheidung für den Abbau der Braunkohle im Rheinischen Revier gilt noch bis 2030. Immerath und Borschemich sind dann längst weg, so wie Otzenrath/Spenrath, Holz, Pesch, Lützerath, Keyenberg,, Kuckum, Westrich und Berverath. Auch die Glockengasse ist dann Geschichte, so wie sie schon heute nur noch das Echo einer Straße ist – mit ihrer Laterne, die da eigentlich nicht hingehört.
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