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Die singenden Bürger von Berka

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

12. Juli 2015

Für das kleine Berka im Kyffhäuserkreis ist das Dorffest der große Tag im Jahr. Alle sind da, alle sind aufgeregt. Der Festumzug zieht durchs Dorf, die Chöre singen, es gibt Würstchen und Bier. Das Publikum ist 60plus, erst gegen Abend wird es jünger, und statt Volksliedern laufen jetzt Punk und Deutschrock. Ein Dorf, zwei Welten. Dann gibt es auch noch Ärger, denn die Party nach dem Chorsingen wird kurzfristig abgesagt. Frust statt Feier, eine ganze Weile lang. Erst spät die Versöhnung – in Form eines Alleinunterhalters, der mit professioneller Hingabe Lieder von Helene Fischer und den Puhdys singt. Das Fest ist gerettet.

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Der Kyffhäuserkreis
24 Hähne hinter Gittern. Der Wettstreit beginnt um acht Uhr morgens. Eine lange Reihe von Käfigen, nebeneinander aufgestellt auf Biertischen. Hinter den Käfigen die Bühne, ein orange gestrichener Bau mit einem Dach aus Wellplastik. Vor den Käfigen die Festwiese mit Ahornbäumen. Die Bürgermeisterin ist da, die Nacht war kurz für Gudrun Oesterheld. Gestern war das große Dorffest. Das Fest dauerte lange, und es gab auch noch Krach.
Die Hähne auf den Tischen sind Welsumer, Italiener, Hampshires. Sie sind klein und groß, schwarz und weiß und braun. Die roten Kämme und Kehllappen zittern. Vor den Hähnen sitzen Menschen und führen Strichliste. Der Hahn, der in den nächsten 60 Minuten am häufigsten kräht, gewinnt einen Pokal und eine gelbe Schirmmütze mit dem Firmenaufdruck eines Sponsoren – in diesem Falle: Dunlop. Das Hahnenkrähen gehört zum Dorffest, es findet zum 41. Mal statt.

Der große Hahn in Käfig Nummer 9 hat keine Chance. Sein Krähen klingt, als würde jemand sterben. Es ist ein röhrender Ton, der nicht enden will. Der Hahn ist türkischer Herkunft, ein Zuwanderer, die Rasse heißt „Denizli-Kräher“. Das Tier ist nicht todkrank, sondern kerngesund, und das röhrende Geräusch ist sein Erkennungsmerkmal. Denizli-Hähne sind „Langkräher“. Sie können bis zu 30 Sekunden am Stück krähen. „Manchmal“, sagt uns der Besitzer, „setze ich mich zuhause mit der Stoppuhr in den Garten.“ Den Wettkampf in Berka kann sein Hahn nicht gewinnen: kräht er einmal, krähen die anderen drei, viermal.

Berka, am Tag davor. Die Luft riecht nach Thüringer Bratwurst, es gibt Bier und Kaffee und 30 Sorten Kuchen. Wenn Berka feiert, dann mit allem Pipapo. Dieses Jahr ist der Frauenchor 50 Jahre alt geworden, dafür sind Sänger aus der ganzen Gegend angereist. Auf der Bühne da vorne singt ein Chor nach dem anderen, dazwischen gibt es freundliche Worte und Geschenke.
Der Frauenchor von Berka probt einmal die Woche, immer dienstags um 19 Uhr, im „Dorfkrug“, der einzigen Gaststätte. Die Leitung hat Ilona Hempel, der man sofort abnimmt, dass sie ihre Sängerinnen im Griff hat. Nein, sagt sie lachend, mit den Männern wollen wir nicht singen. Sie rückt näher. „Die wissen immer alles besser und können eigentlich gar nicht singen.“

Der nächste Chor auf der Bühne, das Dorffest nimmt Fahrt auf. Die Lieder sind deutsch, es geht um Liebe, Leben und Heimat. Vorne links auf der Bühne wehen die Standarten der Chöre, dafür gibt es einem eigenen Metallständer. Auf einer leuchtend-gelben Fahne steht „Das Land soll blüh’n“. Das Publikum sitzt auf Holzbänken mit Lehne vor der Bühne, die meisten sind über 60.

Berka ist ein Dorf im Kyffhäuserkreis im Norden Thüringens und gehört seit 1998 zur Kreisstadt Sondershausen. 890 Menschen leben hier, und „mehr werden das nicht“, sagt Gudrun Oesterheld, die Bürgermeisterin. „Es sterben zu viele. Und die jungen Leute gehen weg, weil sie nicht die Arbeit finden, die sie sich wünschen.“ Der Kyffhäuserkreis ist eine Region, die ganz vorne anfangen musste. Der Umbruch nach der Wende war kaum zu verkraften.

Zu DDR-Zeiten lebte die Gegend von der Bergbau-Industrie. „Kalischacht-geprägt“, nennt Gudrun Oesterheld das. Nach 1990 fielen tausende Stellen weg. Davon hat sich der Kyffhäuserkreis noch nicht erholt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 10,5 Prozent, im benachbarten Landkreis Eichsfeld sind es weniger als die Hälfte.

Gudrun Oesterheld erzählt uns ihr Leben. Ihr Mann war in der DDR selbständiger Karrosseriebauer – etwas Besonderes im System. Seine Firma schweißte und lackierte das Fahrerhaus für sozialistische Nutzfahrzeuge. Für den knuddeligen Transporter B1000, für den robusteren Lkw „W50“, für das kleine „Multicar“. Nach der Wende machte die Familie ein Autohaus auf, aber Gudruns Mann starb ein paar Jahre später. „Mein Sohn bekam keinen Kredit mehr, das Autohaus musste schließen“, sagt die Bürgermeisterin.

Danach probierte Gudrun Oesterheld viel aus, sie machte Computerschulungen, arbeitete in der Bücherei. Die ganze Zeit aber blieb sie Mitglied im Ortschaftsrat. Als Bürgermeister Dieter Hotze vergangenes Jahr nach fast vier Jahrzehnten aus dem Amt ging, sagte sie: „Ich mach es, damit es weitergeht“. Sie wurde ehrenamtliche Bürgermeisterin von Berka.

2015 geht es dem Ort und der Gegend langsam besser. Das liegt auch an der WAGO, einem Großbetrieb der Elektrobranche, der nach der Wende kam und in Berka 1.100 Mitarbeiter hat.

Cornelia Kraffzick über den Wegzug von Frauen.

Ein Rettungsanker. Was der Region fehlt, sind Mütter um die 30, erzählt Cornelia Kraffzick, eine engagierte SPD-Frau und stellvertretende Bürgermeisterin von Sondershausen. Auf dem Dorffest vertritt sie die Stadt – die Wochenenden einer hauptamtlichen Bürgermeisterin sind voll. Vor zehn, 15 Jahren, sagt Cornelia Kraffzick, gingen viele Menschen weg von hier, in den Westen. Vor allem die Frauen fanden nach der Ausbildung keine Stelle mehr. Heute gibt es wieder Arbeit, aber keine Fachkräfte mehr.
Viele Firmen werben schon außerhalb der Region, und Sondershausen will mit einer Imagekampagne den ausgewanderten Nachwuchs nach Hause holen. Dass die Stadt schrumpft, ist ein Fakt: Früher lebten 25.000 Einwohner in der Kernstadt, heute sind es 18.000. Nur weil kleine Orte wie Berka eingemeindet wurden, liegt die Einwohnerzahl insgesamt bei 22.000.

Das Dorffest läuft auf Hochtouren, das Wetter ist anstrengend. Es regnet, und sofort ist es kalt. Die Sonne kommt raus, die Hitze kehrt zurück. Dann wieder Wolken, wieder ein Schauer. Es ist Aprilwetter, kein Mensch kann sich auf sowas einstellen. Dann betritt der MGV Holzsußra die Bühne und das Wetter ist fünf Minuten lang egal, denn Europa kommt nach Berka. Die Männer singen „Freude, schöner Götterfunken“, und nach und nach stimmt das ganze Dorf ein, jeder so gut, wie er oder sie kann. Es ist ein schöner, ein intensiver Moment. Das kleine Dorf zeigt Größe.

Aber es gibt auch die anderen Momente, die schwierigen, zum Beispiel, wenn das Gespräch auf Ausländer und Flüchtlinge kommt. Zwar berichtet die SPD-Politikerin Cornelia Kraffzick von ehrenamtlichen Initiativen und setzt sich auch selbst ein. Auf dem Festumzug hören wir aber auch, es sei „nicht mehr korrekt“, wie viel Hilfe Flüchtlinge in Deutschland bekämen.

Wir hören, dass sich die Politik mehr um die „Einheimischen“ kümmern müsse. Die Aussagen bleiben abstrakt, der Unmut aber ist konkret, und bei manchen sitzt er tief. Über einen Satz denken wir noch lange nach: „Wenn eine Katze ihre Jungen im Fischgeschäft bekommt, sind das noch lange keine Heringe.“

Die Dorfgemeinschaft von Berka lebt von zehn Vereinen. Das ist viel für 890 Einwohner. Feuerwehr, Sportverein, Kleingärtner, Geflügelzucht, Volkssolidarität (ein Wohlfahrtsverein, den es auch schon in der DDR gab). Und die Kirmesburschen. Sie sind der Nachwuchs, sie sind 20 bis 35 Jahre alt, sie sind auch auf dem Fest, und sie freuen sich auf den Abend, auf die Party, auf das Tanzen nach dem Hauptprogramm. Die Kirmesburschen tragen Shirts, auf denen steht: „Unser Filmriss dauert länger als eure Party.“

Christoph erklärt uns, dass die Kirmesburschen immer im Oktober das Kirmeswochenende veranstalten und dafür im Dorf Geld sammeln. Er selbst wohnt schon sein ganzes Leben hier. Er ist 27 und Werkzeugmacher und würde nie wegziehen. Sein Arbeitgeber ist die WAGO, jener Elektro-Großbetrieb mit Sitz in Berka. Anne klingt nicht anders: Sie ist 34 und Verkäuferin, ihre Eltern sind aus dem Eichsfeld hergezogen, vor 17 Jahren. „Ich will das Leben im Dorf nicht missen“, sagt sie. „Ich hab hier meine beste Freundin kennengelernt“. Es gibt also doch noch junge Frauen in Berka.

Vor der Bühne treten inzwischen die „Devil Dancers“ auf, auch das ein Verein mit Sitz in Berka. Fröhliche Frauen und ihre Männer aus der Gegend tanzen Line Dance, das ist ein Formationstanz zu Country- und Westernmusik. Das Medley schallt hinüber bis zum Fußballplatz, wo die SG Berka gerade ihr letztes Heimspiel mit 4:3 gewinnt.

Kurz danach kippt die Stimmung. Es geht schnell, plötzlich sind ein paar Menschen richtig angefressen. Chorleiterin Ilona Hempel, die uns begeistert von ihrer Arbeit und vom Chor erzählt, schickt den Alleinunterhalter nach Hause. Er sollte den Abend über spielen, das hätte 400 Euro gekostet. Nur: Draußen ist es ziemlich kalt, und es sind nicht besonders viele Leute dageblieben. Ilona Hempel ist enttäuscht.

Am Bierwagen herrscht Ungläubigkeit. Die Party, einfach abgesagt? „Das hat ein Nachspiel“, sagt einer. „Das hat es noch nie gegeben.“ Plötzlich drehen sich die Gespräche um den Zusammenhalt im Ort. Es gibt die Postkartenidylle: Schönes Dorf, nette Leute, Heimatgefühl. Und es gibt die ehrliche Erkenntnis: Obwohl wir so ein kleiner Ort sind, reden wir zu wenig miteinander. „Unsere Vereine leben viel zu sehr nebeneinander her“, sagt einer. „Die Generationen auch“, sagt ein anderer. Sie sind aufgebracht, die Menschen am Bierwagen. Man merkt, wie sehr sie ihren Ort mögen. Und dass ihnen so ein Krach an die Nieren geht.

Der Abend ist noch nicht gelaufen. Marc stellt seinen schwarzen Kombi neben die Bierbude, öffnet Türen und Kofferraumklappe und spielt Metallica. Die musikalische Bandbreite ist groß heute. Volkslieder, Beethoven, Metal, später noch Punk und Deutschrock. Marcs Freundin Lydia und ihre Freundinnen Anne und Mandy beginnen auf der Wiese zu tanzen. Es sind 20 Leute hier, die feiern wollen. Auch die Bürgermeisterin ist noch da, Gudrun Oesterheld sucht nach einem Ausweg. Sie will keinen im Dorf brüskieren, weder den Frauenchor noch die jungen Leute.

Die Puhdys – Alleinunterhalter Version Berka

Die Schwalben kreisen, es dämmert in Berka. Anne, Lydia und Mandy machen Selfies. Sie stecken ihre Handys auf einen Teleskopstab, fotografieren sich lachend aus der Luft und schneiden herrliche Grimassen. Die Stimmung steigt. In der Anlage in Marcs Auto laufen jetzt deutsche Lieder. Musik von den „Broilers“ aus Düsseldorf und von „Frei.Wild“ aus Brixen in Südtirol.

„Frei.Wild“ ist eine umstrittene Band: Ihre Kritiker stören sich an der Heimatliebe und finden die Musik viel zu weit rechts – auch wenn sich die Band von Rassismus und Rechtsextremismus distanziert. Zu dem Thema gibt es viele Artikel. Die Düsseldorfer „Broilers“ machen Punkrock und heißen nicht zufällig wie das Hähnchen in der DDR. Das „oi“ im Namen erinnere an ihre Wurzeln, erklärt uns Marc auf dem Dorffest. Das „oi“ steht für Oi!-Musik – das ist Punk aus England, mit Berührungen zur Skinheadszene.

„Diese Skins sind aber keine Neonazis“, sagt Marc. „Das sind die traditionellen Skins aus dem englischen Arbeitermilieu“. Das Thema ist nicht einfach. Die Skinhead-Szene – auch die in Deutschland – ist unübersichtlich, die Grenzen zum rechten Rand sind fließend. Dessen sind sich auch Marc und die anderen bewusst. Heute sind die „Broilers“ längst Mainstream und spielen auf großen Festivals wie „Rock am Ring“. Und hier in Berka gehören sie zu einer Party dazu.

Etwas später erleben wir den Höhepunkt des Abends. Irgendwer organisiert doch noch einen Alleinunterhalter. Gegen 22 Uhr steht die Anlage, es gibt eine kleine Lightshow, und der Mann weiß, was er tut: Er singt Schlager. Er kann alles auswendig, jedes Lied, Helene Fischer, Wolfgang Petry, alles Karaoke, alles live, auch Peter Maffay, auch die „Strohblumen“ von Martin Mann und sogar die „Puhdys“. Er ist kein Allein-, er ist ein Alles-Unterhalter.

Und es ist auch egal, was der Mensch da vorne singt, Hauptsache, er ist da. Die Bürger von Berka sind begeistert, die Frauen haben immer noch Power und tanzen bis in die Nacht. Die Männer stehen dabei und trinken noch ein Bier. Diese Party ist gerettet, irgendwann nach Mitternacht ist Schluss – und in wenigen Stunden werden hier die Hähne krähen, 24 Stück, aufgereiht auf Biertischen vor einer orangefarbenen Bühne, an deren Wand das Banner hängt, darauf in schwarzen Großbuchstaben die Worte „Dorf- und Vereinsfest Berka“.

Ein Kommentar

  1. Michael Hoeldke 6. August 2015 um 14:15 Uhr

    Das Vereinswesen ist es, das solche geselschaftlichen Mikrokosmen zusammenhält. Wer im Chor singt, fußballert oder in der Line tanzt, kann in facebook nicht so oft aus der Reihe tanzen. Die Vereine, oft belächelt, bieten soziales Leben statt sozialer Netzwerke. Und mancher Rechtsaußenpoltergeist zeigt dort, dass er auch anders kann. Weitermachen, e.V.’s !

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