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Katholisch im Grenzgebiet

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

13. Juni 2015

Heinz-Josef Große hat es nicht geschafft. Mit seinem Bagger fuhr er an den Grenzzaun, kletterte hinüber – und wurde erschossen. Das war 1982, und jeder im Eichsfeld kennt die Geschichte. Wir treffen unverhofft einen von Großes Arbeitskollegen, der uns von der Beerdigung erzählt, damals, unter den Augen der Stasi. Wir laufen durch blühende Wälder, und der Frühling bringt uns nach Heiligenstadt und Worbis. Am Ufer der Leine lernen wir Erich kennen, der uns in seinen Schrebergarten zum Cappuccino einlädt. Später probt eine dreiköpfige Band für uns, obwohl wir den Proberaum im Regen fast nicht finden. Wir sind angekommen in der Mitte Deutschlands.

Etappe:
Es muss eine unheimliche Beerdigung gewesen sein. Für das Regime war der Baggerfahrer Heinz-Josef Große ein Vaterlandsverräter. Versuchte Republikflucht, unverzeihlich, ein Verbrecher. Der Termin der Beerdigung wurde nicht bekanntgegeben. Es kamen nur wenige Menschen, und wer hinging, musste mit Konsequenzen rechnen. Gerhard Müller ist hingegangen. Heinz-Josef Große und er waren Arbeitskollegen.
„Die Stasi stand auf dem Parkplatz und schrieb die Nummernschilder unserer Motorräder auf“, erzählt Gerhard Müller. Dass wir ihn treffen, ist Zufall. Er baut gerade an seinem Heizungskeller und steht vorm Haus, als wir vorbeikommen, in Lutter an der Lutter. Gerhard Müller erkennt unseren Wanderführer Lothar. Guten Tag, wollt ihr ein Bier? Sowas geht schnell im Eichsfeld.

Drei Stunden vorher waren wir noch im Grenzmuseum Schifflersgrund – dort, wo Heinz-Josef Große starb. Ein schlanker, weißer Wachturm, einige Baracken und ein Fuhrpark aus dem Kalten Krieg. Nostalgische Polizeiwagen, ein Lkw mit Radaraufbau und eine Handvoll Hubschrauber, darunter in grün und silber der gigantische, sowjetische MI-24. Und Heinz-Josef Großes Bagger. Blassgelb, mit hellblauen Streifen. Der Bagger sieht klein aus hinter all den Hubschraubern.

Das Grenzmuseum liegt auf einem Hügel. Es ist windig hier oben, und dort unten sehen wir den Zaun, über den Heinz-Josef Große fliehen wollte. Das Metall ist dunkel, die Löcher sind zu eng zum Greifen. Auf der anderen Seite des Zaunes steigt der Hang wieder an. 50 Meter weiter begann die BRD.
Am 29. März 1982 fährt Heinz-Josef Große mit seinem kleinen Bagger ganz nah an den Zaun, damals noch gesichert mit Selbstschussanlagen. Er hebt die Schaufel des Frontladers. Auf der westdeutschen Seite stehen drei Zollbeamte und verfolgen das Geschehen. Große ist endlich oben auf der Schaufel, er springt über den Zaun.

Doch zwei junge DDR-Grenzsoldaten haben ihn entdeckt. „Lauf, Junge, lauf“, rufen die westdeutschen Beamten. Stefan Heuckeroth-Hartmann vom Grenzmuseum erzählt uns die Geschichte. Ein Warnschuss fällt. Große läuft. Noch ein Schuss fällt, und noch einer, insgesamt sind es neun. Große wird getroffen, er sackt zusammen. Die Hälfte der 50 Meter hat er geschafft. Um 16.05 Uhr stellt der Regimentsarzt seinen Tod fest. Drüben am Hang steht ein Kreuz.

Wir sind in der Mitte Deutschlands, im Eichsfeld, das so viele Jahre lang Grenzland sein musste. Das Eichsfeld liegt im Dreiländereck Hessen/Niedersachsen/Thüringen. Viele schmale Straßen gibt es, sie sind einspurig und winden sich hügelauf und hügelab, durch Wiesen und Buchenwälder.

Das Eichsfeld war immer eine strukturschwache Region, und es ärgert die Leute hier auf der Thüringer Seite, dass es nur ein paar Kilometer weiter bis heute mehr Geld für die gleiche Arbeit gibt. Für Aufsehen sorgte 1994 das Aus für die Kaligrube in Bischofferode. Die Bergleute besetzten die Grube, sie traten in den Hungerstreik – vergebens. Das große Zementwerk in Deuna, Baujahr 1975, hat sich dagegen gehalten.

„Eichsfeld“ schreibt sich mit „ch“. Das Wort stammt wahrscheinlich von „Eiche“, aber die Menschen hier sagen „Eiksfeld“, mit „k“. Die Eichsfelder sind sich ihrer selbst bewusst. Region stiftet Identität. Oft hören wir, wie schön die Landschaft und die Häuser seien. Der Nachsatz klingt chauvinistisch: „Glauben Sie mir, nur ein paar Kilometer weiter sieht das ganz anders aus“. Es hat was Schwäbisches, das Eichsfeld.

Das Selbstverständnis der Menschen ist untrennbar mit ihrem Glauben verbunden. Das Eichsfeld ist streng katholisch und gehörte jahrhundertelang zum Fürstbistum Mainz. Sonntags ist die Kirche voll, es gibt eine Menge Wallfahrten in der Gegend. Zu DDR-Zeiten hatten die Orte meist einen Bürgermeister von der Ost-CDU.

Zwei Einheimische wandern mit uns: Rüdiger Eckart, Mitte 40, sportlicher Typ, blaue Augen, das jüngste von fünf Kindern. Lothar Jakob, 67, Wanderführer. Rüdiger Eckart ist gelernter Buchdrucker und Vorsitzender der Bürgerinitiative, die seit 2012 in Heiligenstadt den Bürgermeister stellt – nach mehr als 65 Jahren CDU. Rüdiger Eckart leitet auch die Tourismus-Information. Lothar Jakob ist gelernter Elektriker, hat später Finanzwirtschaft studiert und im Landratsamt gearbeitet. Er hat einen besonders schönen Wanderstock mit einer hineingewachsenen Spiralform.

Der Wald leuchtet. Die Blätter sind lindgrün, der Boden ist bedeckt von Buschwindröschen und Sumpfdotterblumen, ein Teppich in weiß und gelb. Rüdiger Eckart und Lothar Jakob erzählen uns ihr Leben. Freundlich sprechen sie von Familie und Tradition. Rüdiger Eckart nennt das Eichsfeld „Klein-Gallien“ und lacht. Er war 19, als die Mauer fiel. Nein, sagt er, ich war kein Widerstandskämpfer. Aber die Jugendweihe hat er trotzdem geschwänzt. Seine Kraft fand er zuhause – und in der Religion.

Rüdiger Eckart über den Widerstand im Eichsfeld

„Die Kirche war unser Schirm“, sagt er. „Bei uns gab es das öffentliche Bekenntnis zum Glauben. Es hat Spaß gemacht zu zeigen, dass wir anders sind.“ Zur Männerwallfahrt an Christi Himmelfahrt, sagt er, pilgerten tausende Menschen nach Martinfeld. „Da haben wir uns stark gefühlt. Der Bischof oder ein Priester haben Predigten gehalten… das haben die Leute, die mitschreiben mussten, ziemlich schnell gemeldet.“

Die erste Pause, wir sind im Lengenberg. Rüdiger Eckart packt Brot, Wurst und Bier aus. Es ist elf Uhr morgens. Wir trinken „Luther Starck Bier“ und essen Eichsfelder Wurst, die an Salami erinnert. Dünn und gerade heißt sie „Stracke“, kurz und bauchig heißt sie „Feldgieker“. Beim Schlachten verfahren sie hier nach dem Lehrsatz: „Wenn das Schwein am Haken hängt, wird erstmal einer eingeschenkt.“ Für das typische Eichsfelder Warmschlachten gab es von der EU eine Sondergenehmigung.

Der Lengenberg ist Lothar Jakobs Welt. Er kennt ihn so gut, weil sein Vater gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hierher floh. Die Amerikaner fanden schnell heraus, dass zwei Angehörige der Wehrmacht sich im Wald versteckten. An die Dorfbewohner in Lutter erging die unmissverständliche Drohung: Wenn die beiden sich nicht stellen, erschießen wir zehn Bürger. Lothars Vater stellte sich und ging in Kriegsgefangenschaft.

Wir lassen den Wald hinter uns, und vor uns im Sonnenschein liegt Lutter an der Lutter. Ein Kirchturm, rote Dächer, weiß blühende Obstbäume, ein Flüsschen fließt über Steinstufen durch den Ort. Gleich werden wir am Straßenrand Gerhard Müller treffen, den Arbeitskollegen von Heinz-Josef Große, dem Maueropfer. Gerhard Müllers Sohn – der Kraftfahrer Maurice – wird uns seine Sammlung von Geweihen zeigen und auf dem Akkordeon spielen. Wir kommen nicht richtig vorwärts. Und es gibt schon wieder Bier. Die nächste Steigung im Wald nimmt kein Ende.

Stefan Heuckeroth-Hartmann über die Restriktionen im Grenzgebiet bei Heiligenstadt

Stefan Heuckeroth-Hartmann über das System DDR.

Dann sind wir endlich in Heiligenstadt. 1.000 Jahre alt, um die 17.000 Einwohner, fünf Prozent Arbeitslosigkeit. Sole-Heilbad, Herzstück des Eichsfeldes und Mitte Deutschlands. Im Stadtteil Flinsberg liegt einer der vielen geographischen Mittelpunkte (um die Ehre streiten eine ganze Reihe von Orten, und jeder berechnet den Punkt anders). Es ist Samstag, 15 Uhr, die Innenstadt ist gepflegt und still, die Läden haben geschlossen, uns fällt viel Leerstand auf. Heinrich Heine ließ sich hier taufen, Theodor Storm war acht Jahre lang Kreisrichter, und der junge Bismarck soll zum Trinken hierher gekommen sein, weil er in Göttingen Kneipenverbot hatte. Einer der Erfinder der Mundharmonika stammt ebenfalls aus Heiligenstadt.

Es gibt Kaffee und Kuchen in der Herrnmühle, einer restaurierten Wassermühle, die uns ein engagierter Hals-Nasen-Ohrenarzt zeigt. Michael Werle verbringt viel Freizeit hier, nur steht die Mühle wegen Bauarbeiten in der Stadt gerade still. Dafür läuft eine CD in der Mühle, „Love over Gold“ von den Dire Straits. Mark Knopfler singt, und Michael Werle spricht mit Hingabe über das Eichsfeld. Dann fährt er uns hinauf zur Burg Scharfenstein. Unser Schlafplatz.

Die Burg liegt auf einem Hügel. Es gibt ein paar Pilgerzimmer und nachts zwei furchterregende Wachhunde. Wir bekommen für 19 Euro pro Nase das „Papstzimmer“ mit einem phänomenalen Blick über die Gegend. In diesem Raum hätte Benedikt der Sechzehnte Siesta machen sollen – am Ende ging er doch zur Wallfahrtskapelle nach Etzelsbach, zehn Kilometer nördlich. Mehr als 90.000 Menschen kamen.

Zwei Diktaturen lang hat ihr Glaube durchgehalten, da kommt schonmal ein Papst und sagt Dankeschön. Gut für Burg Scharfenstein: Die Straße wurde damals neu geteert. Heute fahren Skateboarder auf Longboards hinunter, die Serpentinen führen durch den Wald und hinaus in die Ebene.

Schnurgerade liegt die Straße am nächsten Morgen vor uns, die Sonne scheint, wir wollen nach Worbis. Das Eichsfeld ist hier flacher, wir kommen an die Leine, ganz schmal ist sie, und wir folgen ihr ein paar Kilometer. Das Wandern ist pure Freude, Wolken ziehen am Himmel vorbei, am Rand des Weges leuchtet der Löwenzahn. Die Welt ist Farbe und Geruch und Klang, und das Eichsfeld ist schön. In diesem Moment lernen wir Erich kennen.

Er steht am Kofferraum unterhalb seines Schrebergartens, der am Hang in der Sonne liegt und zehnmal größer ist als die kleinen Parzellen der Kolonie „Leineblick“ gleich links. Ich frage Erich, warum. „Privatbesitz“, meint er. Fünf Minuten später sitzen wir im Gartenhaus, und Erich macht Cappuccino. „Hätte ich gewusst, dass Sie kommen, hätten Sie hier schlafen können“, meint er. Deutschland kann so einfach sein. Viele aus Erichs Familie sind im Eichsfeld zuhause, die Wege waren kurz. Dann kam die DDR-Grenze. Eine Cousine bekam ein Kind ohne Trauschein – in der katholischen Umgebung damals undenkbar, sie flieht in den Westen, holt das Kind später nach.

Erich hat Zeit seines Lebens bei den Zementwerken in Deuna gearbeitet. Studiert hat er Maschinenbau, ging in den technischen Service, nach der Wende auch im Westen. Inzwischen hatte Dyckerhoff aus Wiesbaden das Werk gekauft. Dieses Ossi-Wessi-Denken, sagt er, das hast Du nicht so im Kopf, wenn die Sippschaft aus der Gegend kommt.
Aus Duderstadt zum Beispiel, kaum mehr als zehn Kilometer Richtung Norden. Zu DDR-Zeiten lag Duderstadt trotzdem auf der anderen Seite. Erich hat es gewurmt, wenn die Verwandten aus dem Westen jedes Mal mit einem neuen Auto kamen, und wenn sie erzählten, welche Ausbildung sie hatten – oder zumindest haben könnten. Er selbst war 1988 das erste Mal im Westen, zu einem runden Geburtstag in der Familie.

Das Gespräch dauert nur eine gute halbe Stunde, aber es ist kein Small-Talk. Erich gibt uns einen Tipp mit auf den Weg: „Esst in der Klienbaude zu Mittag, hinter Breitenbach links halten.“ Und so erleben wir noch ein Stückchen DDR-Geschichte: eine Waldgaststätte, ein Ober in Schwarz-Weiß, ein kross gebratenes Schnitzel und ein Schild: „Hunde bitte im Wald befestigen“. Dazu zwei liebenswerte Menschen am Nachbartisch, die uns vom Skat erzählen. Einer von beiden ist einarmig und spielt mit einer Steckvorrichtung, der andere ist amtierender Eichsfeldmeister.

Das letzte Kapitel ist Musik. Es regnet in Strömen in Worbis, und wir laufen eine steile Straße hinauf und hinunter, um den Proberaum zu finden. Endlich steht eine Frau in einer Tür. Sie heißt Kerstin und fragt: „Wollt ihr zu meinem Sohn?“ Eine halbe Stunde später spielen Jacob, Matthias und Nico für uns. Gesang/Gitarre, Schlagzeug und Bass. Rock mit deutschen Texten, jugendlich, authentisch. Die erste CD haben sie in Witzenhausen aufgenommen und selbst gebrannt, bedruckt und 100 Hüllen mit dem Logo besprüht. „Auf Messers Schneide“ heißt das Album.

Jakob: Warum wir deutsche Texte singen.

Jacob, Matthias und Nico kommen aus Worbis, Gernrode und Teistungen, liegt alles nah beieinander. Sie sind 20, 25 und 27 Jahre alt und alle drei Single. Das ist nicht klassisches Eichsfeld.
Aber sie sind die nächste Generation. Sie sind die nach der Wende. Jacob studiert Schulmusik in Erfurt, Matthias arbeitet bei einem Autohändler, Nico in der Möbelmontage. „Wir hatten keine schwere Kindheit“, sagt Matthias. „Wir haben alle einen Job, es gibt außer unserer Musik wenig zu erzählen“.

Auch nicht über das Eichsfeld? Doch, sagt Matthias. Es stimme, dass nach außen alles schön sei, schick und ruhig. Aber abgesehen vom Open Air „Rock im Park“ in Gernrode werde zu wenig für die Jugend getan, sagt er, das Angebot werde kleiner, und es kämen weniger Menschen als früher. Woran liegt das? „An der Verdrossenheit der Eichsfelder, abends wegzugehen“, meint Jacob. Das heißt, die Eichsfelder finden ihre Häuser schön und bleiben darum zuhause? „So kann man das wohl sagen.“ Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte liegen, aber da sind wir ja sowieso schon.
Der Tag geht auf der Straße zuende. Es hat aufgehört zu regnen. Wir reden nicht mehr viel, es sind noch sieben Kilometer bis Niederorschel, wo wir in der „Heimatstube“ schlafen wollen, einem kleinen Museum. Die Straße ist lang, es gibt keinen Bürgersteig. Ich bin müde und sage zu Dirk: „Weißt Du noch, wie uns Rosi im Sauerland mit ihrem Bus mitgenommen hat?“ Er nickt. Keine fünf Sekunden hält hinter uns eine schwarze Limousine. Es ist Matthias, der Schlagzeuger. Er grinst breit, er muss wirklich in diese Richtung, er nimmt uns mit. Das Eichsfeld meint es gut mit uns.

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