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Leben mit Ziegen

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

10. April 2015

Nach Ute und Andreas kann man die Uhr stellen. In Freienhagen kann jeder sehen, wann sie im Sommer mit dem Trecker zur Weide fahren, zu ihren Ziegen – und mit der frischen Milch wieder zurück. Präsenz im Dorf: das ist ihnen wichtig. Zu zeigen, dass sie Teil der Gemeinschaft sind. Genau wie ihre Tiere, die Murke, Hirse, Gasella und Gecko heißen und im Stall neben dem alten Bauernhaus leben. Ute und Andreas machen seit vielen Jahren Bio-Ziegenkäse, und 2015 wollen sie etwas Neues erpoben: den Naturschutz. Mit ihren Ziegen, in einem Seitental des Edersees.

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Mittags um kurz nach 13 Uhr steht das Leben auf dem Maliesenhof still. Nur eine kleine Weile, gerade eine Stunde lang. Es ist ein Innehalten, eine Verschnaufpause. Draußen ist es sonnig, ein Vorfrühlingstag Mitte März. Dort, wo es windstill ist, hat die Sonne schon Kraft. Ein schöner Platz ist die Bank aus Stein an der Stirnseite des Stalls. Ein paar Meter weiter links dampft ein Misthaufen. Rechts lehnt ein rostiges Fahrrad, halb verborgen hinter trockenem Gras, dahinter ein Stoß Holz, meterhoch. Der Himmel ist klar, das Hellblau zerbrechlich mit kleinen Wolken, von ferne Kinderstimmen.

Andreas über ein Leben im Dorf

Hirse hat Stress. Sie ist noch jung, zu jung für einen guten Platz in der Rangordnung. Immer wieder versucht sie, eine geschützte Ecke unter dem tiefsten Regalbrett zu erwischen, einen Unterschlupf, ein Refugium. Immer wird sie weggestoßen, weggedrückt, und sucht am Ende die allerletzte Zuflucht auf, die ihr bleibt: ganz vorne am Gatter. Dort hängt der Wassertrog, und Hirse passt so gerade eben drunter. Es sieht nicht gemütlich aus, wenn sie sich, getrieben von den anderen, da hinzwängt. Vor den Hornstößen von Gecko ist sie auch hier nicht sicher. Gecko ist die Leitziege, und sie ist launisch.

Ute Schultz und Andreas Regniet sind ruhige, bedachte Menschen. Ute kommt aus dem Saarland, Andreas aus dem Sauerland. Sie haben in Kassel Landschaftsplanung und Landschaftsökologie studiert und später am Niederrhein in einem Kuhbetrieb gearbeitet. Damals beschließen sie, nach Nordhessen zurückzukehren und sich selbständig zu machen. Zuerst wohnen sie bei Freunden und schauen auf Karten der Region: Wo gibt es viel Grünland? Wo gibt es Weideland? Die Suche endet in Freienhagen, auch wenn Ute das Klima zu rau ist. Freienhagen liegt westlich von Kassel. Keine 15 Kilometer südlich liegt der Edersee.

So beginnt ein Lebensentwurf: mit Freunden, einer Landkarte, einer Idee und einem Haus. Ute und Andreas kaufen sich den kleinen Hof in Freienhagen. Er macht viel Arbeit, natürlich, und die Menschen aus dem Dorf helfen ihnen. Fast alles muss renoviert werden, das Wohngebäude, die Scheune, der Stall. Früher hatte der Bauer hier Kühe. Ute und Andreas beginnen, Ziegen zu halten. Die sind einfacher zu händeln als Kühe, gerade für Ute, wenn Andreas mal nicht da ist (er arbeitet einen Tag die Woche als Landschaftsgärtner, Ute gibt Tai Chi-Qi Gong-Kurse in der Gegend).
Aus der Milch ihrer Ziegen machen Ute und Andreas Käse, verschiedene Sorten, die ganze Palette: Frischkäse, Weichkäse, Schnittkäse, Hartkäse. Alles bio. Sie verkaufen ihren Käse anfangs in der Region, um die Wege vom Produkt zum Endverbraucher kurz zu halten. Es gibt auch Wurst und Schinken, die je nach Schlachter anders schmecken. Aber Priorität hat der Käse.

Es dauert Jahre, bis sie das gezüchtet haben, was Andreas „die Gebrauchsmischung“ nennt: Eine robuste, braunhaarige Ziege mit einem schwarzen Streifen auf dem Rücken. Die Gebrauchsmischung ist in der Mehrheit, aber im Stall stehen auch noch andere: die bunte deutsche Edelziege und ein paar Toggenburger. Die stammen aus der Schweiz, und einige von ihnen haben ein wuscheliges Fell, das ist dann ein anderer „Schlag“.

Das Geschäftsmodell funktioniert heute noch, nach zwei Jahrzehnten, nur die Abnehmer haben sich geändert. Damals gab es mehr Bio-Läden in der Gegend. Dann entdeckten die Supermärkte die Sparte, und darum – so vermutet Ute – haben die Naturkostgeschäfte Stück für Stück zugemacht. Heute geht ein Teil ihres Käses zu REWE nach Südhessen – das heißt: Frankfurt, Wiesbaden, Darmstadt, Michelstadt. Da wohnen mehr Kunden als im dünner besiedelten Norden.

Andreas über die „Gebrauchsmischung“

Unten im Hof, im Tiefparterre der Scheune, bauen sie die Käserei gebaut. Die Räume sind weiß gekachelt, vor den Fenstern Fliegengitter, der Boden extrem sauber, links ein großer silberner Kessel, in der Mitte am Fenster ein langgezogener Metalltisch, rechts ein Regal mit weißen Plastikformen für den Käseteig. Die Stimmen hallen, man fühlt sich wie im Labor, ein starker Gegensatz zu der warmen Sinnlichkeit des Ziegenstalls. Ute Schultz macht den Käse, und am liebsten mag sie den „Malieser“. Das ist ein Hartkäse, der an Pecorino erinnert, aber viel besser schmeckt.
Ute darüber, wie alles begann

Hinter den Räumen, wo Ute käst, liegt die Reifekammer. Jetzt im März ist sie nicht mehr so gut gefüllt. Ein rotgemauerter Raum, sechs Quadratmeter, gleichbleibend kühl, an den Wänden Regale aus Holz. Auf den glattgeschliffenen Holzbrettern liegen Käselaibe, sandfarben und nicht so groß, wie ich dachte.

Anfassen darf ich nichts, da ist Ute streng. Aber sie erzählt mir die Lebensläufe der Laibe: Wie viele Monate, welche Sorte, welche Kräuter. Immer wenn sie einen in der Hand hält, streicht sie mit der anderen darüber.

In der Mitte des Regals an der Längsseite der Käsekammer hängt ein Schildchen, darauf stehen drei Wörter: „Nur für uns“. Dort liegen die wahren Schätze des Maliesenhofes: einige wenige Laibe, die ein bisschen länger reifen dürfen, die nicht verkauft sondern irgendwann, an einem schönen Sommerabend vielleicht, genussvoll gleich hier auf dem Hof gegessen werden.

„Das ist unser Reichtum“, sagt Ute. Sie mag am liebsten den alten Malieser, den Hartkäse. Und der ist mit Ziegenmilch gar nicht so einfach hinzubekommen. Ute kriegt ihn hin.

Andreas zeigt uns den Stall, ein paar Meter neben der Käserei. Dirk und ich machen die Nachmittagsschicht mit. Es ist nach 16 Uhr, und die erste Aufgabe heißt: Füttern. Also tragen wir armweise trockenes, blassgrünes, duftendes Heu zu den Tieren. Zwischendrin steigt Andreas hinauf in den Scheunenboden und wirft mit der Heugabel Nachschub herunter, der-Staub steht minutenlang in der Luft wie ein Regenschleier. Jetzt ist Leben im Stall: Die Ziegen fressen im Takt,  Dirk und ich legen im Takt nach. „Die werden kugelrund, das müsst ihr euch nachher mal ansehen“, sagt Andreas.

Er empfindet viel Zuneigung für die Ziegen. Wir stehen vor einer kleinen Gruppe von Lämmern. Die Tierchen sind schon ziemlich groß, um die 60, 70 Zentimeter hoch. Andreas zeigt auf eines der Lämmer. Das Lamm schaut ihn an, es kennt ihn. „Guckmal, wie das im Leben steht“, sagt Andreas. Die Lämmer bekommen heute die Milch per Schnuller vorgewärmt aus einem Eimer. Der Grund ist einfach: „Wir wollen die Milch ihrer Mütter haben“, sagt Andreas. Darum werden die Lämmer für kurze Zeit von den Müttern getrennt und bekommen warme Kuhmilch. Auch lecker.

Säugen im Selbstversuch. In der kleinen Abteilung gegenüber wohnen ein paar Schafe – und die winzigen Drillinge mit dem schwarzen Fell brauchen besondere Hege. Das heißt: Sie werden mit dem Fläschchen ernährt. Andreas macht es vor, ich mache es nach: Über das Gatter hineingreifen in die Box, vorsichtig ein Lamm packen, und schon habe ich ein warmes, zappelndes Bündel auf dem Knie (denn am besten legt man sich das Lamm über’s Knie). Der Rest ist Instinkt: Flasche, Maul, die Verbindung rastet ein, und in 180 Zügen pro Minute saugt das schwarze Lamm die Flasche leer.

Schnell sind ein, zwei Stunden herum. Milch warmmachen, Heu nachlegen, ein ganz bisschen Kraftfutter aus der Kaffeedose dazustreuen. Die Arbeit ist körperlich nicht sehr anstrengend, aber mir fehlt ganz klar die Koordination, Heu streut sich nicht von selbst so gleichmäßig. Bei Andreas sieht jeder sofort: Der macht das seit Jahren, der kennt jedes Tier, jede Geste, jeden Handgriff, es ist eine Choreographie im Ziegenstall, und er hat sie selbst geschrieben. Wie lange macht er das noch? Ein schwieriges Thema. Ute und Andreas sind beide Anfang in den Fünfzigern. „Da überlegt man schon, wie viele Schlepper man sich im Leben noch kauft.“ Er meint: Traktoren.

Leben mit Ziegen: Wenn alles klappt, werden die Tiere vom Maliesenhof noch dieses Jahr damit anfangen, in einem Seitental des Edersees Landschaftspflege zu betreiben. Das ist ein Traum von Andreas: Naturschutz mit Ziegen. Und Andreas hat schon eine Anfrage vom Landesbetrieb „Hessen-Forst“, die ihre Naturschutzgebiete besser in den Griff bekommen möchten. Gerade auf die felsigen, steilen Hänge aber gelangen Schafe nicht mehr hin. Ziegen schon. Und Andreas geht mit und kann beobachten, wie seine Tiere fressen und sich die Landschaft dadurch langsam verändert. Wie eine neue Vegetation entsteht.

Das ist der Kern von diesem Lebensentwurf: die Geschwindigkeit. Für Andreas und Ute geht es vor allem darum, altes Wissen zu bewahren oder wiederzufinden. Es geht darum, so zu wirtschaften wie die Vorfahren, und das bedeutet vor allem: so wie vor der Erfindung von Agrochemie und Mineraldünger. Wieder eine Wiese hinzubekommen, auf der so viele Kräuter wachsen, dass sie wieder wie früher die eigentliche Hofapotheke für die Tiere ist. Nicht alles auf einmal zu mähen, damit die vielen kleinen Populationen in der Wiese ausweichen können, zum Beispiel die Amphibien und die Insekten. Es ist einfach: ein langsameres Tempo. Das ist Andreas und Ute vom Maliesenhof wichtig. Das ist ihre Nachhaltigkeit.

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