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Menschen in Bäumen

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

4. November 2015

Bei Tolkien sind es die Elben, die im Wald leben. Sie bauen Paläste in den Bäumen, mit vielen Plattformen und Strickleitern, alles in filigraner Holzkunst. Auf der Kulturinsel Einsiedel wohnen Menschen in den Wipfeln. Ihre Holzhäuser sind windschief, aber das ist gewollt. Wer hier oben die Sonne über der Neißeaue aufgehen sieht – während auf dem Holzdach gegenüber ein Yak frühstückt – der versteht: Hier wurde ein Kindheitstraum wahr. Ein Traum, der längst auch ein Geschäftsmodell ist.

Etappe:

Als wir im Morgenlicht auf dem Dach sitzen, frage ich Doreen Stopporka, ob sie ein glücklicher Mensch ist. „Ja, das bin ich“, sagt sie. So direkt, so klar habe ich das in den vergangenen zwölf Monaten nicht gehört von den Menschen, die wir getroffen haben. Doreen Stopporka ist Geschäftsführerin der „Kulturinsel Einsiedel“, einer Welt im Wald, die sich selbst „grüngeringelter Abenteuerfreizeitpark“ nennt.

Es sind 17 Kilometer zu Fuß von Görlitz in Richtung Norden, es ist der vorletzte Tag unserer Wanderung. Der Herbst ist da, so wie vor einem Jahr, als alles begann. Und wieder ist das Wetter golden, der Himmel ist blankgeputzt. Es müssen um die 20 Grad sein, das Wandern fällt leicht. Unser Weg führt durch Zodel, Deschka und Zentendorf, und dort streifen wir schon den östlichsten Punkt Deutschlands, wo wir am nächsten Tag hinwollen. Die Kulturinsel liegt drei Kilometer weiter nördlich. Ein letzter Schlenker.

Noch eine Brücke und ein Stück durch den Kiefernwald, dann kommen die Baumhäuser. Es sind nicht einfach ein paar, es sind viele. Und es sind keine wackligen Hochsitze für Kinder, die nach einem Winter auseinanderfallen. Es ist eine Stadt aus bunt gestrichenem Holz. Das älteste Haus ist mehr als 30 Jahre alt und hängt in einer Eiche. Jürgen Bergmann hat es dorthin gebaut, er ist der geistige Vater dieses Reiches in den Baumkronen. Jürgen Bergmann ist der Lebensgefährte von Doreen Stopporka, aber er kann leider nicht mit uns sprechen, denn er hat Magen-Darm.

Dafür empfängt uns Doreen Stopporka, am nächsten Morgen um kurz nach neun. Geschlafen haben wir in einem Baumhaushotel, es gilt als erstes seiner Art in Deutschland. Unser Häuschen dort hieß „Olves Baumburg“: eine verwinkelte, gemütliche Konstruktion mit Küche, Klo und Schlafkojen. Die Schritte knarren. Nach dem Frühstück folgen wir Doreen Stopporka in die Wipfel. Ihr Zuhause liegt noch höher als das Baumhotel.

Der Aufstieg hat etwas Märchenhaftes. Der Weg führt mitten durch die Bäume, über schmale Metallstege, auf denen Holzbretter als Stufen angebracht sind. Rechts und links dienen armdicke Baumstämme als Geländer, das fühlt sich gut an, und es wackelt nur ein bisschen. Wir sind bald oben im Laub. Um uns herum wächst eine große Kastanie, die Blätter haben schon gelbe und braune Flecken.
Die Stege verlaufen im Zickzack, hin und her, von Etage zu Etage. Doreen Stopporka geht bedächtig, ein wenig schreitet sie. Obwohl sie ganz Geschäftsfrau ist, sieht sie in ihrem dunkelgrünen Kapuzenmantel mit den braunen Nähten und der roten Pluderhose aus wie ein Waldmensch. Sie und Jürgen Bergmann leben mit ihren Kindern Janko und Jolanda in den Holzhäusern über und unter uns.

Ganz unten liegt die Buchhaltung, darüber die eigentliche Wohnung und darüber das Chefbüro. Danach kommt nur noch die Terrasse, auf der wir das Interview führen wollen. Wir sind jetzt auf Wipfelhöhe. Hier oben scheint schon die Sonne, ich kann die Pudelmütze abnehmen. Der Blick ist fantastisch. Im Osten sieht man Wiesen, über denen ein Rest von Nebel hängt. Dort fließt die Neiße, dahinter ist Polen. Nach Norden fällt der Blick über den Freizeitpark mit seinen Brücken, Tunneln und Rutschen, mit den Skulpturen, den Kletterbaumhäusern und den Tieren. Sie haben Ziegen hier, und ein paar Erdmännchen, unten an der Pforte zur Neiße. Es gibt auch einen Vierhornziegenbock, und jetzt gerade sehen wir vor uns zwei Truthähne auf dem Dach gegenüber.

Weiter links, noch ein Dach, es ist das der Festhalle und sicher 100 Quadratmeter groß. Da liegt tatsächlich ein Büffel, groß und schwarz. „Das ist ein Yak“, korrigiert Doreen Stopporka. „Die mögen es hoch, dann sind sie der Sonne näher.“ Und wie kommt das Tier da rauf? „In einer Kiste, mit dem Teleskoplader. Im Frühjahr bringen wir ihn hoch, und für den Winter kommt er mit den anderen Tieren auf eine Koppel.“

Neben uns auf der Dachterrasse steht eine Holzschaukel. Sie erinnert an die Gondel eines Riesenrades, denn sie besteht aus zwei Bänken, die einander gegenüberliegen. „Das ist unser kleiner, privater Wellnessbereich“, sagt Doreen Stopporka. Sie meint nicht nur die Schaukel, sie meint auch den großen Zuber weiter rechts. Ein Bad mit Aussicht.

Wir reden über das Geschäft. Darüber, wie aus einem Baumhaus ein Freizeitpark wird. Jürgen Bergmann ist eigentlich Bildhauer und arbeitete in der Forstwirtschaft. Doreen Stopporka erzählt, dass er schon vor der Wende hier gelebt hat. Er schnitzte Sachen und verkaufte sie auf Märkten. Nach der Wende lief das nicht mehr, und er musste sich etwas Neues einfallen lassen.

Er nahm die Kettensäge und baute Objekte aus Holz, „Spielskulpturen“, sagt Doreen Stopporka. Jürgen Bergmann bekam den Auftrag für einen Stadtspielplatz. Das brachte Geld. Er baute sich Stück für Stück ein Team auf und eröffnete eine kleine Galerie. Heute arbeiten mehr als 100 Menschen hier, die meisten für die „Künstlerische Holzgestaltung Bergmann“, der Rest für den Freizeitpark. Doreen Stopporka sagt, irgendwann sei ihnen klargeworden, dass nicht nur Kinder von Baumhäusern träumen.

Und jedes Jahr erfinden sie Dinge, die es noch nicht gibt. Man hört die Motorsägen, tagein, tagaus, hinten am Waldrand, die Werkstatt liegt direkt neben dem Freizeitpark. „Überregional werden wir als Kreativköpfe wahrgenommen“, sagt Doreen Stopporka. „Aber hier in der Gegend gelten wir als Spinner.“ Sie selbst benutzt das Wort „verrückt“, wenn sie von den Baumhäusern spricht, von den Spielgeräten – und vom großen Ganzen. Aber sie gibt dem Wort „verrückt“ einen freundlichen Klang.

Denn es ist ja eine verrückte Idee, so eine hölzerne Stadt im Wald. Natur plus Handwerk: Das Konzept ging keinesfalls immer auf. Die Firma hat eine Insolvenz hinter sich, das war 2013. Damals hatten sie sich verhoben mit dem Geld, unter anderem mit dem „Krönum“, der stylishen Festhalle – eine Mischung aus Restaurant und Showtheater.

Jürgen Bergmann ist seit der Insolvenz nicht mehr Inhaber, aber immer noch künstlerischer Leiter. Doreen Stopporka übernahm die Geschäftsführung einer neuen Gmbh, mit neuem Investor. „Wir sind zu schnell gewachsen“, sagt sie heute. „Da sind Strukturen nicht mitgewachsen.“ Im Herbst 2015 kostet der Eintritt 13 Euro für Erwachsene und bis zu 9,50 für Kinder, je nach Gewicht. Laut Kulturinsel kommen 100.000 Menschen im Jahr. Und sie erleben das Reich der Turiseder. Das ist die Legende, der rote Faden, der alle Geschichten hier zusammenhält. Der Gründungsmythos der Kulturinsel.

Auf der Internetseite klingt das so: „Etwa tausend Jahre ist es her, dass die letzten Nachkommen der TURISEDER in den Neißeauen siedelten. Die ‚von den Bergen Kommenden‘ (abgeleitet aus dem slawischen /i:tu-ri-´se-dos/) lebten friedlich unter Regentschaft kindlicher Könige, bis sie aus noch nicht genau geklärten Gründen vor etwa tausend Jahren im Nebel der Zeit verschwanden.“
Turiseder? Slawisches Volk? Im Internet gibt es zu dem Begriff nur Links, die irgendwie mit der Kulturinsel zu tun haben. Ich kann keine zweite, unabhängige Quelle finden, obwohl im Museum der Kulturinsel sogar Ausgrabungen gezeigt werden. Alles Fake? Aber die Frage ist irrelevant: Hier, in der Welt der Bäume und Hütten, hat es die Turiseder gegeben. Und hier werden laut Homepage ihre „Riten, Wettkämpfe und Zelebrationen“ in Szene gesetzt. Zum Beispiel im „Krönum“, das ebenso auf „-um“ endet wie vieles andere hier: Behütum, Inforum, Historum, Waldsiedlum. Wie die Römerlager bei Asterix.

Die Krönungs- und Festhalle, das „Krönum“, muss ein Alptraum für die Statiker gewesen sein. Denn es ist keine Halle im klassischen Sinne, sondern ein Labyrinth aus Sitzecken, Treppen und Brücken. Alles schief und krumm, alles geplant. Den Weg hinaus finde ich nicht auf Anhieb, aber wozu auch. Im Krönum ist das Licht gedämpft, die Anmutung ist mittelalterlich. Dieses Jahr spielen sie zum Essen das Stück „Alte Sünden rosten nicht“ – die Geschichte des turisedischen Spielemeisters Gnatzelborg, dessen Tochter Judka seine Nachfolge antreten soll. Wäre da nicht der Wikinger Olvin. Grob gesagt.

Das Bier bekommen wir von einer jungen Frau, die sich als Gastro-Troll vorstellt, und wir selbst gehören für diesen Abend zur Sippe der Alchemisten. Wir haben vor dem Spektakel ein dunkles Gewand und einen bunten Turban bekommen, unter dem ich sofort schwitze. Im „Krönum“ werden wir von Gnatzelborg selbst in die Alchemisten-Ecke gebracht. Dort stehen kleine Fläschchen und ein Schädel, über uns hängen Sicheln und auf einem Vorsprung links oben steht ein Zylinder mit Glasaugen. Ich glaube, die sind aus Plastik.

Doreen Stopporka über das Glück

Der Abend funktioniert echt gut. Immer wieder ertönt ein Gong, dann müssen wir runter in den Zuschauerraum und sehen den nächsten Teil der Geschichte. Zwischendrin gibt es Essen – erst drei Suppen (Kastanie, Knoblauch, Zitronengras), dann ein ordentliches Büffet, und am Ende auch Eisberge mit brennenden Wunderkerzen wie im ZDF-Traumschiff. Die Show ist witzig, die Künstler sind professionell und selbstironisch. Es gibt viel Nebel und Schwarzlicht, dazu Akrobatik und Jonglierkunst. Auch der Sound stimmt, es wummert gut, wenn Gott Turius bei Blitz und Donner zu uns spricht. Seine Stimme hallt.

„Das ist mein liebstes Theaterstück bisher“, sagt Doreen Stopporka am nächsten Tag, oben auf dem Dach. „Es erinnert mich an eine Soap, mit Ehepaar, Kindern und Liebesverstrickungen.“ Sie lacht und schaut schon wieder so zufrieden aus. Nicht selbst-zufrieden, sondern einfach im Reinen mit sich und dem Holz. Dann stelle ich ihr die Frage nach dem Glücklichsein, die sie so ganz ohne zu zögern mit „Ja“ beantwortet. Auch im Winter? Auch wenn der Park geschlossen ist? Ich kriege sie nicht aus der Reserve. „Im Winter ist es noch schöner hier“, sagt sie. „Es hat dann so eine Magie. Wir sind ja in der Neißeaue, da sieht man den Nebel manchmal bis mittags. Und unsere Holzgestaltung hat im Winter Hochsaison. Es ist also gar nicht ruhig, und wir arbeiten viel.“ Dirk macht noch Fotos von ihr in der Holzschaukel, dann steigen wir wieder hinunter aus der Wipfelwelt, die Stege hinab, durch das Kastanienlaub. Sie leben wirklich in den Bäumen, diese Menschen. Und im Grunde kann ich das gut nachvollziehen. Manchmal braucht man wohl so eine Welt aus buntem Holz, in der es keinen nennenswerten Handyempfang gibt – und keinen Bedarf an Wasserwaagen. Eine Welt in der Luft, ohne rechte Winkel. Ein Nimmerland aus Holz.

Die Reportage wurde unterstützt von der „Kulturinsel Einsiedel“ (eine Übernachtung im Baumhaushotel und ein Abendessen im Krönum).

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