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Zwei Brüder in Glaubitz

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

23. September 2015

Im Garten des Pfarrhauses steckt die Kindheit von Karl-Ernst und Michael Müller. Hier haben sie mit den Nachbarskindern gespielt, wenn sie nicht gerade als Chorkinder beim Leichenzug mitmussten. Der Tod war in ihrem Leben von klein auf präsent. Dass es ein politischer Tod sein konnte, wenn sich einer der Bauern wegen der Kollektivierung das Leben nahm – das verstanden sie erst viel später. Michael lebt bis heute in Glaubitz, Karl-Ernst ist nach Zwickau gezogen – und fährt von dort Hilfsgüter in die West-Ukraine. Das ist seine Art, die Westpäckchen von einst zurückzugeben.

Etappe:

Der Garten ist eine Welt. Jeder Winkel hier trägt einen Namen. Der „Eichengrund“, das sind die hohen Bäume zwischen Pfarrhaus und Kirche. Unter den Bäumen führt der „Bischofsweg“ hindurch, ein schmaler Pfad mit schmaler Treppe. Von der „Zugecke“ aus haben sie die Bahnlinie beobachtet, die Züge von Leipzig nach Dresden. Am „Bleichplan“ wurde die Wäsche in die Sonne gelegt und mit der Gießkanne begossen, damit sie weißer wurde. Das funktionierte wirklich.

Und natürlich die „Steinküche“. Karl-Ernst beschreibt sie als Gebilde aus Bruchsteinen: „Dort spielten wir und mixten aus Laub, Sand, Wasser und anderen Naturalien exotische Gerichte, die man nicht essen konnte.“ Die Nachbarskinder kamen zum Spielen und waren neidisch. Es war die Zeit, in der die Kinder Kartoffeln am Feuer rösteten. In der sie eine Menge Tiere im Garten beerdigt haben. Vögel, Mäuse, Igel. Karl-Ernst könnte schwören, dass irgendwo eine Ziege liegt. Michael ist sich nicht so sicher. Es sind Jahrzehnte vergangen seither.

Das Dorf Glaubitz liegt östlich von Riesa in Sachsen. Die Elbe ist keine zwei Kilometer entfernt. Es ist später Nachmittag, wir stehen im Garten, und gleich um sechs werden die Glocken läuten. Die Kirche ist aus dem 16. Jahrhundert, die Glocken sind seit Anfang der Siebziger Jahre „elektrifiziert“, wie Michael es nennt. Vorher mussten die Jungs selbst ran. An Silvester dauerte das Läuten eine ganze Stunde. Sie durften aber Pausen machen. Um die Glocken zu schonen.
Eine Kindheit auf dem Land. Diese Kirche war ihre. Oben im Turm hatten sie den Überblick. Ein Ort für Kinderspiele. Für Experimente. Sie nahmen Spatzen aus. Sie turnten an den Glockenseilen. Im Turm gab es auch ein Guckloch für die Hochzeiten. Die Taxifahrer mussten mit dem Brautpaar an einer Stelle halten, die man vom Turm aus sehen konnte. Dann fingen die Jungs  im Turm an zu läuten. Das Taxi fuhr zur Kirche, die Hochzeit begann. Es war das perfekte Timing.

Karl-Ernst und Michael sind noch im Pfarrhaus geboren. Das erzählen sie fast als erstes. Beide. Hier hinten im Garten ist die Sonne sommerheiß. Die Äpfel sind fast reif, und wir schauen uns alles an. Michael deutet hinüber zum Haus. Im Obergeschoss, sagt er, da haben wir geschlafen. „Und dort unten im Erdgeschoss, seht ihr das Eckzimmer? Dort wurden wir geboren“. Sein „dort“ hört sich an wie „dott“. Das ist das Sächsische. „Na klar“ heißt hier „nü gloar“. Ich muss manchmal nachfragen.

Karl-Ernst und Michael sind in den Sechzigern und sehr unterschiedliche Männer. Karl-Ernst ist etwas älter als Michael, ein dynamischer Kerl, wortreich, mit großer Geste. Er ist ein gutgelaunter Macher und kann in zehn Minuten zehn Anekdoten erzählen. Michael ist sanfter, bescheidener und auf seine Weise besonders zuvorkommend. Wenn er Kaffee nachschenkt, wird einem warm ums Herz. Vollendete Höflichkeit. Aus den Geschichten der beiden Männer entsteht ein Bild. Es ist das Bild von Glaubitz. Der Ort, das Haus, der Garten. Es ist die Geschichte ihrer Familie. Es ist ihre Heimat.

Vier Kinder waren sie – drei Brüder, eine Schwester. Ihr Vater Christoph war hier von 1939 bis 1976 Pfarrer. So lange lebte Familie Müller im Pfarrhaus. Danach mussten sie ausziehen. Das neue Haus war zwar nicht weit entfernt, aber sie mussten alles selbst aufbauen und bezahlen. Die Kirche war nicht in der Lage, für ihre Ruheständler zu sorgen, sagt Karl-Ernst heute. Ich frage ihn, wie es war, als Kind in einem protestantischen Pfarrhaus zu DDR-Zeiten. „Es war eine schwierige Zeit“, sagt er. „In der Schule haben sie uns spüren lassen, dass wir Pfarrerskinder waren.“ Die Logik ist einfach: Der „Pfaffe“ war in den Augen der atheistischen Schule und einiger Lehrer der Feind. Doch das war nur ein Teil ihres Lebens. „Zuhause waren wir Hilfskräfte im Unternehmen Pfarrhaus“, sagt Karl-Ernst. „Mit zwei Friedhöfen und der Kirche. Das war viel praktische Arbeit.“

Ein wesentlicher Teil der Arbeit waren die Leichenzüge. Sie waren streng choreographiert, mit Leiterwagen und Pferd. Eine kleine Prozession zog zum Haus des Toten, das ein paar Kilometer entfernt liegen konnte, in Nünchritz zum Beispiel. Den Hin- und Rückweg machten sie bei jedem Wetter, mitunter verging ein halber Tag. Es gingen mit: Der Pfarrer, der Küster, die Leichenfrau. Bis zu 20 Chorkinder, für die im Winter die Mäntel nicht reichten. Ein Kind ging immer ganz vorn, das Kreuz in der Hand. Der Pfarrer übernahm die Aussegnung, dann musste der Tote hinauf auf den Leiterwagen. Und zurück ging es zu Pfarrhaus und Friedhof. Einmal rollte der Leiterwagen durch eine Unterführung, als oben der Zug kam. Die Pferde scheuten und gingen durch. Der Vater rettete sich mit einem Sprung zur Seite.

Irgendwann erzählt uns Karl-Ernst ein Rätsel, und Michael nickt. Er kennt die Antwort natürlich. Also: Vier Rollerrädchen, zwei Huptertätchen, ein Kalter und ein Warmer – was ist das? „Huptertätchen“? Ich frage dreimal nach, wie das Wort geschrieben wird. Es ist einer dieser Fantasiebegriffe, die bei Google keinen einzigen Treffer liefern. In der Familie Müller wissen sie: Das sind die Pferde. Karl-Ernst löst das Rätsel auf. Gemeint ist der Leichenwagen – mit den Pferden, dem Toten und dem Kutscher. Ein Kalter und ein Warmer. Ganz einfach.

Karl-Ernst über den Leichenzug

„Viele Menschen können mit dem Tod nicht umgehen“, sagt Karl-Ernst. „Und das kann man ihnen auch nicht verdenken“, sagt Michael. Für die Brüder war der Tod Alltag. Und es waren nicht nur natürliche Tode. Karl-Ernst erinnert sich an die Zeit der Kollektivierung in der DDR. Daran, dass Bauern ins Pfarrhaus kam und den Vater fragten: Was sollen wir tun? Sollen wir mitmachen? Sollen wir revolutionieren? „Das waren gestandene Männer“, sagt Karl-Ernst, „aber sie haben nicht zueinander gefunden.“ Es gab keine Revolution. Mehrere Bauern hätten sich stattdessen damals das Leben genommen, erzählt er. „Wir haben sie dann zu Grabe getragen. Und es wurde nicht darüber geschwiegen, was passiert war.“

Vergangenheit, Gegenwart, Familiengeschichte. Der Kontakt zu den Brüdern ist über meine liebe Freundin Ulrike zustandegekommen. Sie lebt in Köln, sie ist die Tochter von Karl-Ernst. Und sie meinte: Wenn ihr von West nach Ost wandert, dann kommt ihr durch Glaubitz. Karl-Ernst kommt extra für uns dorthin. Er hat Glaubitz mit 21 verlassen und lebt bis heute mit seiner Frau Brigitte in Zwickau. Michael ist im Dorf geblieben, sein ganzes Leben lang. Er hat die Eltern versorgt und gepflegt, bis zum Tod. Das rechnet Karl-Ernst ihm hoch an. Heute kümmert sich Michael ehrenamtlich um die beiden Friedhöfe in Glaubitz. Karl-Ernst ist Stadtrat in Zwickau und fährt Hilfsgüter in die Ukraine. Auch das ist seiner Familiengeschichte geschuldet – und auch diesen Teil der Geschichte wollen wir hören.

Es ist Abend geworden, es wird früher dunkel in Sachsen, der Herbst ist nicht weit. Michael verabschiedet sich und fährt heim. Karl-Ernst bringt uns zur Pilgerherberge in den Nachbarort Zeithain, ein paar Kilometer weiter. Auch er beschließt, über Nacht zu bleiben. Platz ist genug in der Herberge, und bald sitzen wir im Restaurant „Zur Einkehr“, und Karl-Ernst holt sein Laptop heraus. Er zeigt uns Glaubitz, ein Bild in Schwarz-Weiß: Es ist die Familie. Karl-Ernst und Brigitte sind noch jung, die kleine Ulrike auf dem Arm lacht.

Dann sehen wir die Ukraine. Wir sehen das Örtchen Laskiw, nicht weit hinter der polnischen Grenze. Dort liegt das Grab von Onkel Ernst, der 1941 nach einer schweren Verwundung in der Ukraine starb. Karl-Ernst wollte immer dorthin. 2005 fuhr er, und seine Kinder Ulrike und Christian fuhren mit, ebenso Ulrikes Mann Christoph. Auch davon gibt es ein Bild: Gemeinsam stehen sie mitten in einem Rapsfeld mit zwei Einheimischen – mit Nikolaj und Wasili, der sogar deutsch spricht. Die beiden zeigen Karl-Ernst den Ort des Grabes und den des Lazaretts. Das Foto mit dem Händedruck ist ein Stück deutsch-ukrainische Geschichte. Wassili nahm mit Tränen in den Augen die Mütze ab und sagte: „Lieber Mann, deine Kinder sind gekommen über tausend Kilometer, du kannst jetzt im Frieden ruh´n!“

Damals beginnt eine Ost-West-Geschichte, die bis heute andauert. Die Ukraine wird für Karl-Ernst zu einer Gelegenheit, die West-Päckchen aus der BRD von einst zurückzugeben. Das gibt er verschmitzt zu. Heute ist er es, der vom Westen aus dem Osten hilft. Denn in Laskiw sah er nicht nur seine Vergangenheit, er sah die Armut. Auf den Flohmärkten die Möbel: im Grunde Sperrmüll. Karl-Ernst begann zu sammeln für die West-Ukraine. Er besorgte sich einen Transporter und fuhr vollbeladen hin. Das tat er wieder und wieder, 2015 machte er gleich mehrere Touren. Es sind gute 12 Stunden Fahrt von Zwickau, und gebraucht wird eigentlich alles: Rollatoren, Computer, Kleidung, Karl-Ernst sammelt und fährt. Inzwischen hat er einen Verein gegründet, und die Stadt Wladimir-Wolynsk in der Nähe des kleinen Laskiw ist seit ein paar Jahren die Partnerstadt von Zwickau.

Bild: Privat
Auch im Mai 2015 war Karl-Ernst in Wladimir-Wolynsk. 2.000 Menschen kamen, um das Kriegsende zu feiern. 70 Jahre danach. Eine merkwürdige Situation, denn weiter östlich im Land ist heute wieder Krieg. Karl-Ernst hält eine Rede vor den Ukrainern. Er entschuldigt sich für das Leid, das die Deutschen einst über die Bevölkerung gebracht haben. Die Menge klatscht. Es gibt ein wackliges Handy-Video von der Gedenkfeier. Immer wieder bekommt er Mails. Sie erzählen ihm, wie es um das Kleinkind mit der Herz-Operation steht, die er mitfinanziert hat. Mit den Spenden, die er gesammelt hat.

Wir reden lange, die Kellnerin ist geduldig. Eigentlich schließt die „Einkehr“ um 21 Uhr. „Aber“, sagt die Kellnerin lachend, „wenn bei Ihnen der Abend erst um 21 Uhr losgeht, dann bleibe ich so lange, bis er wieder aufhört.“ Irgendwann hört der Abend auf. Wir schlendern hinüber zur Pilgerherberge von Zeithain und setzen uns auf Bänke im Innenhof. Die Bilder des Tages ziehen vorbei: Glaubitz, der Garten, der Kirchturm, die beiden Brüder. Und die Ukraine. Wir rauchen und trinken einen Schnaps auf die vielen Geschichten. Karl-Ernst hat der Wirtin einfach eine Flasche abgekauft. Es ist Birnenschnaps, und es ist kein schlechter. Über uns wölbt sich der Sternenhimmel einer Spätsommernacht in Sachsen.

Karl-Ernst über den 8. Mai 2015

Ein Kommentar

  1. Müller, Karl-Ernst Zwickau 11. Oktober 2015 um 11:04 Uhr

    Ich finde es toll, wenn auch der „kleine Mann“ einmal zu Wort kommt. Denn unsere Väter und Mütter sind tot. Sie könnten noch mehr erzählen über eine Zeit, die in der Geschichtsschreibung des Ostens Deutschlands ein großes Defizit hinterlassen hat. Als wir unserem Vater Christoph Müller an seinem 75. Geburtstag 1985 ein Tonbandgerät schenkten und ihn baten, darauf seine Erinnerungen zu sprechen, lehnte er ab mit dem Hinweis, dass uns das nur zum Nachteil gereichen wurde. Schließlich wurde gegen ihn ermittelt, weil in den 1950er Jahren der Glaubitzer Schuhmachermeister Gerhardt Rothe dem Bürgermeister einen kritischen Brief schrieb, er dafür ins Gefängnis oder Zuchthaus nach Bautzen kam und die Schreibmaschine gesucht wurde. Nicht jeder hatte damals eine. Dass die Altkommunisten, die ich wegen ihrer Arbeit im 3. Reich (Wer einmal aus dem Fressnapf frass…) nicht verachte, immer noch die Geschichte ihrer Macht nach 1945 zu verdrehen suchen, wurde mir wieder leidvoll am 25. Jahrestag der Deutschen Einheit bewusst! Dank dem Team um Jörg-Christian Schillmöller

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