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Querfurt im Elsterglanz

Autor: Joerg-Christian Schillmoeller
Fotos: Dirk Gebhardt

2. September 2015

Ein Volleyballturnier fällt ins Wasser. Und wir bekommen drei Leben geschenkt. Von Menschen, die wieder nach Hause gekommen sind. Nach Querfurt, Sachsen-Anhalt. Karola Schmitz hatte mit ihrem Gatten fast 13 Jahre lang ein Restaurant auf Teneriffa, „ein bisschen wie die Auswanderer im Fernsehen“, sagt sie. Heute kocht ihr Mann auf Forschungsschiffen – und sie im „Thaldorfer Kartoffel- und Schnitzelhaus“. Wolf-Dieter Schergun war zu DDR-Zeiten bei der Handelsmarine, heute träumt er von einem Betriebskindergarten bei seiner Firma, „am liebsten mit Kneipp-Konzept“. Und Andreas Nette hat in Saudi-Arabien und Oman seine Islamklischees abgearbeitet und kürzlich bei der Wahl zum Oberbürgermeister 40 Prozent und Platz zwei geschafft. Begeistert erklärt er uns den Querfurter Dialekt – und hält ein mitreißendes Plädoyer für Deutschland. Und für Elsterglanz. Von letzterem hatten wir bis dato noch nie gehört.

Etappe:
Es ist Abend im Sportlerheim. Vor dem Eingang sitzen Männer auf Bänken, Getränkekisten, Stühlen und Treppenstufen. Der Blick fällt auf den Fußballplatz. Es ist lange hell, es ist Sommer in Ostdeutschland. Gleich wird Andreas Nette die Geschichte von „Elsterglanz“ erzählen. Eindeutig einer der Höhepunkte des Tages, und der Tag war mies.
Es hat aus Kübeln geschüttet, anfangs fast ohne Pause. Am Ende hat es so viel geregnet, dass sie auf dem Fußballfeld kein Volleyball mehr spielen konnten. Turnier abgebrochen. Schluss, aus. Das war der 36. Burgfest-Pokal, der Traditionswettkampf in der Region. Sogar Frauen aus der Schweiz waren angereist, vom VC Safenwil-Kölliken, Kanton Aargau. Die Querfurterin Susann Seidel wohnt dort. Sie und ihr Mann haben eine Firma, die Hagelschäden an Autos repariert. In der Schweiz hagelt es oft.

Wenigstens das Frauen-Finale hat stattgefunden, da fing der Rasen gerade an, zu trocknen. Es war ein echt gutes Finale. Die Stimmen in der Luft, das Klatschen des nassen Volleyballs auf Unterarmen und Handflächen, die Pfeife des Schiedsrichters, der Jubel der Teams, das gegenseitige Anfeuern. Die Siegerehrung im Sportlerheim zieht Andreas Nette durch. Kaffee, Kuchen, Händeschütteln – das verdirbt ihm kein Regen der Welt. Es gibt tosenden Applaus für die Schweizerinnen mit der abtrünnigen Querfurterin Susann.

Das Sportlerheim von Querfurt ist ein langgezogener Flachbau mit Vordach. Ein gekachelter Flur mit Duschen und Umkleideräumen, in denen wir nachher schlafen werden. Der Vereinsraum sieht aus wie ein Vereinsraum. Theke, Tische, Stühle. Fotos, Pokale und Fernseher. VfL Querfurt 1980 e.V., rot-weißer Schriftzug, schwarze Silhouette der Burg. Während der Siegerehrung klatscht ein Querschnitt von Querfurt, es klatscht eine ganze Region. 50 Frauen und Männer, jung und alt, aus den nächsten Dörfern und Städten und von etwas weiter weg. Die Laune hebt sich langsam.

Mittendrin sitzen auch die Rechten. Eine kleine, kurzhaarige Gruppe, eine Mannschaft. Einer trägt ein Sweatshirt von Thor Steinar. Andreas Nette kennt alle aus dem Stadtbad. Dort spielen auch die Rechten Volleyball. Dieses Jahr gab es nicht so viele Anmeldungen für den Burgfest-Pokal, und Andreas Nette waren die Klamotten egal. Er hat mit seinem Verein gesprochen, und die Rechten durften mitspielen. Sie sind ein kleiner Teil von Querfurt, vielleicht nicht sehr organisiert, aber vorhanden. „Das ist keine politische Veranstaltung hier“, hat Andreas Nette ihnen vor dem Turnier gesagt. Es blieb alles im grünen Bereich.

Andreas Nette liebt Querfurt. Das klingt platt, ist aber die Wahrheit. Lebenslauf Nummer eins. Der Mann kriegt glänzende Augen hinter seiner Brille mit den kreisrunden Gläsern, wenn er von der Heimat erzählt. Und er ist nun wirklich nicht rechts. Er ist für die SPD als Kandidat für das Amt des Bürgermeisters angetreten. Er hat gute 40 Prozent und Platz zwei geholt gegen die CDU-Frau Nicole Rotzsch. „Danach haben sie mich abgestraft und in die Verbannung geschickt“, sagt er. Warum? „Weil ich bei der Wahl angetreten bin.“

 

Verbannung, das heißt Geschäftsbuchhaltung. Andreas Nette ist bei der Stadt Querfurt angestellt. Bis vor kurzem war er zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, Tourismus und Gebäudemanagement. Jetzt sitzt er in der Geschäftsbuchhaltung, und sein früherer Chef – der Ex-Bürgermeister Peter Kunert – sieht darin keine Degradierung. Er hat kurz vor seinem Abgang noch eine Verwaltungsreform gemacht. Er sagt in einem Zeitungsinterview, Nette sei in sein Spezialgebiet gewechselt. Andreas Nette lacht bitter. „Mich fragen viele, was ist denn das, Dein Spezialgebiet? Und ich sage: Da müsst ihr den früheren Bürgermeister fragen.“ Andreas Nette ist angefressen. Aus seiner Sicht kann Lokalpolitik grausam sein. Es steht Aussage gegen Aussage.

Andreas Nette liebt nicht nur Querfurt. Er liebt auch den Orient. Er ist studierter Archäologe und wollte unbedingt mal nach Syrien, aber da begann dort der Krieg. In Saudi-Arabien war er, in der alten Oasenstadt Tayma in der Provinz Tabuk. Und im Oman, wo er in Gräbern aus der Bronzezeit gearbeitet hat. Oman, Saudi-Arabien: Beides keine freien Länder. Aber die Erfahrungen will er nicht missen. „Hier in Deutschland haben ja viele geglaubt, dass jeder Muslim ein potenzieller Terrorist ist“, sagt er. Das sind die Folgen von 9/11. Andreas Nette hat in Saudi-Arabien und im Oman ganze Familien kennengelernt, er hat hinter die Türen geschaut. „Das war ein anderer Blickwinkel“, sagt er. Es hat ihm gut getan. Man kann ihm lange zuhören.

Und er schickt uns ins Kartoffelhaus, im Querfurter Ortsteil Thaldorf. Lebenslauf Nummer zwei. „Ihr sucht doch Geschichten“, sagte er. „Fragt mal nach Karola Schmitz“. Das Kartoffelhaus ist eine Oase aus Fachwerk. Auf einer Mauer stehen Kräuter in Töpfen, drumherum riesige Bäume, eine Pappel raschelt. Von drinnen klopft es laut, es ist ein dumpfes Geräusch. So klingt es, wenn Holz auf Holz trifft – mit einer Scheibe Fleisch dazwischen. Karola Schmitz klopft Schnitzel. „Wir wollen, dass Sie uns Ihr Leben erzählen“, meint Dirk. „Okay“, sagt sie, legt dem Hammer weg und setzt sich zu uns. Sie ist ein bisschen durch, das Team hatte gestern ein Außer-Haus-Catering. 120 Leute, im Saal im „Goldenen Stern“.

Karola Schmitz über den Unterschied zwischen Teneriffa und Querfurt.

Karola Schmitz war nicht im Oman, nicht in Saudi-Arabien. Sie war auf Teneriffa. Sie ist ausgewandert. 1999. Mit Hermann, ihrem zweiten Mann. „Vollexistenz“ stand in der Anzeige, in einer Fachzeitschrift für Hotel und Gastronomie. Die Zahlen des Restaurants auf der Insel schienen zu stimmen, und sie sagten sich: Wir riskieren es. Deutsch-französische Küche, der Laden lief gut, nur am Innenleben mussten sie was tun. „Die hatten Rohrstühle wie aus DDR-Zeiten und keine Tischdecken“, sagt Karola Schmitz. Sie brachten das Restaurant in Schuss, hielten eine Weile durch und wurden 2012 langsam müde. Karolas Sohn aus erster Ehe wollte sein Abitur ohnehin in Deutschland machen. Also kamen sie zurück.

Nur dass sie dabei einem ihrer Bekannten aus Teneriffa auf den Leim gingen. Er habe ihnen eine Anstellung in einem Hotel in Neuss versprochen, sagt Karola Schmitz. Hermann als Koch, sie im Service. Kurz vor Arbeitsantritt kam die Absage. Für beide. Keine Verträge. Von heute auf morgen. Das tat weh. Sie saßen in Neuss, kannten niemanden. Ein paar Jahre später kehrten beide heim nach Querfurt.

Karola kocht seit März in der schicken, weißen Jacke eines Kochs im Kartoffelhaus („wenn man einem Koch so viele Jahre zuschaut, dann kann man das“). Hermann hat sich seinen Lebenstraum erfüllt. Er kocht auf See. Auf Forschungsschiffen, für das Bundesamt für Hydrographie und Seeschifffahrt. Ostsee, Vermessungen, Wracksuche. Es fahren um die 20 Leute mit, freie Tage gibt es keine. Hermann ist wochenlang weg, und Karola wohnt in einer kleinen Wohnung in Querfurt und findet ihr Team im Kartoffelhaus traumhaft. „Das ist die letzte Station in meinem Arbeitsleben“, sagt sie. Der Unterschied zu Teneriffa? „Krasser geht’s nicht. Da fängt das Leben abends an.“ In Querfurt ist abends nicht so viel los. Die Jugendlichen sieht sie auf den Parkplätzen.

Querfurt hat um die 12.000 Einwohner. In der Region gibt es vor allem eines: Landwirtschaft. Die Gegend heißt ganz passend: Querfurter Platte. Einer der großen Arbeitgeber ist die Agravis, die mit Produkten aus der Landwirtschaft handelt. Sie verleiht Mähdrescher, mischt den Bauern den Dünger an, holt Weizen ab. Bei der Gravis arbeitet Wolf-Dieter Schergun, den wir beim Volleyball treffen. Lebenslauf Nummer drei. Wolf-Dieter Schergun arbeitet seit vier Jahrzehnten in dem Betrieb. Er ist Vize im Aufsichtsrat des Mutterkonzerns, Betriebsrat und Chef der Außenlager in der Gegend.

Auch er war auf See, lang ist das her. „Ich habe die DDR mit 17 Jahren verlassen, ich war unterwegs auf allen Schiffen der Welt“, sagt er. Wolf-Dieter Schergun war bei der Handelsmarine. Die DDR brauchte fremde Währungen. Also war sie Dienstleister in fremden Ländern. Sein erster Hafen war Hamburg, da war er am 1. Weihnachtstag 1970. „Das hat sich komisch angefühlt“, sagt er. Er ist später oft gefragt worden: Wieso bist Du nicht abgehauen? Wir fragen ihn das auch. „Ich hatte die Überlegung nie“, antwortet er. „Das Elternhaus war okay. Ich hatte die Geschwister, den Bekanntenkreis. Ich war gut aufgehoben. Ich hatte keinen Grund, abzuhauen“, sagt er. „Es war alles so weit okay.“

Er landete bei dem Agrarbetrieb und brachte ihn über die Wende. „Du musst das machen, Wolf-Dieter“, sagten die Kollegen damals. Also verhandelt er mit der Treuhand, und sie sorgen dafür, dass „gewisse Leute“ – er meint verdiente DDR-Funktionäre – nicht mehr im Unternehmen bleiben. Heute bekommen die Beschäftigten Tariflöhne, und Wolf-Dieter Schergun wünscht sich einen Betriebskindergarten. „Im Sommer“, sagt er, „da haben wir Hochsaison und die Kindergärten sind zu. Wir haben Alleinerziehende, und wir brauchen die. Ein Kindergarten, das wäre eine Lösung.“ Er weiß, was er will: ein paar Tierchen. Keine Elefanten, aber Kaninchen vielleicht und eine Ziege. Und ein Kneipp-Konzept für die Kleinen.

Die „Thaldorfer Pfingstburschen“ haben Wolf-Dieter Schergun 2011 zum „Brunnenherrn“ gekürt. Wir sind jetzt tief in der Querfurter Seele. Das Ritual geht zurück auf den Heiligen Brun. Er hat einst – so will es die Legende – eine Menge Kinder vor dem Tod durch Ersäufen gerettet. Heute ist ein Brunnenherr sozial aktiv, Wolf-Dieter Schergun hat das Frühlingsfest „Verein-t für Kinder“ erfunden, der Erlös geht zum Beispiel als Obstfrühstück in die Kindergärten. Es kommen noch immer Kinder ohne Frühstück, sagt er.
Vorsitzender der Pfingsburschen ist Lebenslauf Nummer eins. Andreas Nette, der Archäologe mit der runden Brille. Die Pfingstburschen machen jedes Jahr an Pfingsten ein ziemlich großes, weltliches Fest. Das ist der große Tag in Querfurt, der Mittwoch nach Pfingsten, der „Knoblauchmittwoch“, der aus komplizierten historischen Gründen so heißt. Da wird der „Brunnenherr“ gekürt, da herrscht Ausnahmezustand. „Das ist unser Nationalfeiertag“, sagt Andreas Nette.

Wir sind zurück am Sportlerheim. Wir trinken Bier und schauen auf den Fußballplatz. Andreas Nette redet über Deutschland. Jetzt ist er Emotion pur. Man sieht alles vor sich, man hört seine Sprache, man spürt seine Liebe zur Heimat. „Wir haben nie begriffen, dass wir so verschieden sind. Deutschland ist ein kleinteiliges Land. 1990 sind zwei große Länder aufeinandergetroffen, und wir haben es in 25 Jahren nicht geschafft, das unter einen Hut zu bringen. Wir sind immer noch dabei, zu lernen, was Deutschland ist.“

Und dann erzählt Andreas Nette endlich die Geschichte von „Elsterglanz“. Die Augen hinter den runden Brillengläsern strahlen. Jeder, der in einer Region mit einem typischen Dialekt lebt, versteht diese Begeisterung. Elsterglanz ist das erfolgreichste Comedy-Duo Mitteldeutschlands – aus Eisleben, knapp 20 Kilometer nördlich von Querfurt. Dort spricht man Mansfeldisch. Ganz anderer Dialekt als in Querfurt, wo sich das Thüringische, das Sächsische und das Mansfeldische mit dem dialektfreieren Sprech der Merseburger mischen.

 

Andreas Nette über Elsterglanz

„Elsterglanz“ vertont Szenen aus Hollywoodschinken wie „Rambo“ neu und unterlegt sie mit anderen, prosaischeren Texten. Bei Star Wars gibt es sowas auf Kölsch. Der erste Spielfilm von Elsterglanz hieß „Im Banne der Rouladenkönigin“, der zweite ist in Mache. „Elsterglanz“ ist für Andreas Nette ein Stück Heimat. Ein Handy geht rum vor dem Sportlerheim, zu sehen sind Videoschnipsel der Komiker. Natürlich, eine Rambo-Szene. Sylvester Stallone wird aufgefordert, keinen Schicki-Micki-Fraß zu kochen. Er soll einfach mal Eier machen. Kann er aber nicht. Der heisere Imperativ „Mache Eier!“ ist ein Schlachtruf. Kennt jeder hier. Außer uns.

„Elsterglanz“ ist noch mehr. Es ist ein Chromputzmittel aus DDR-Zeiten, das es heute wieder gibt. Das ist Andreas Nettes Sternstunde. „Damals fuhren die Jungens Moped. S 51, der Klassiker“, sagt er. „Und hinten auf dem Bock saß die Lady mit hohen Absätzen.“ Wir stellen uns das vor. „Die Absätze standen auf dem Auspuff. Und das Gummi schmolz auf dem heißen Metall.“ Jetzt kommt die Punch-Line. „Was macht der Junge? Er schickt die Lady nach Hause und kümmert sich darum, dass der Auspuff sauber wird. Und was nimmt er dazu?“ Andreas holt Luft, und alle kennen die Antwort: „Ellllsterglaanzz.“ Das Wort steht ein paar Sekunden in der Abendluft vor dem Sportlerheim. Die Runde lacht, es ist eine kollektive Erinnerung. Genau das ist Querfurt: ein Stück Sprache, ein Stück Heimat. Eine Stadt im Herzen des Ostens.

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